Dr. Joachim Galuska über die besondere Zeitqualität des Augenblicks
Bad Kissingen – Während wir in der chronologischen Zeit wie gefangen wirken und uns den Mächten und Kräften und all den Entwicklungen ausgeliefert fühlen, wird immer wieder “Kairos” spürbar. “Kairos” ist eine besondere Zeitqualität voller Möglichkeiten, in der wir die Gelegenheit haben, das Leben zu gestalten. Kairos ereignet sich in unserem persönlichen Leben, aber auch in unseren Beziehungen und in unserem gesellschaftlichen Leben.
Vom 7. bis 10. Juni 2018 widmet die Akademie Heiligenfeld ihren Jahreskongress dem Thema Kairos. Was es mit dem Begriff auf sich hat und welche besondere Qualität in Kairos steckt, erklärt Dr. Joachim Galuska, Gründer der Heiligenfeld Kliniken und Leiter des Kongresses der Akademie Heiligenfeld.
Kairos und Chronos
“Kairos ist die Verdichtung der Zeit und die besondere Zeitqualität des möglichen Augenblickes”, sagt Dr. Galuska und führt weiter an, dass man sich immer mit der Vergegenwärtigung des Jetzt beschäftigen oder das Jetzt immer vergegenwärtigen könne. Erkennt man den gegenwärtigen Moment, erfasst und spürt man ihn ganz, dann spürt man die besondere Zeitqualität, die jeder Moment in sich trägt. Dies sei das Besondere des Augenblickes und dies sei eigentlich bereits ein Ausdruck von Kairos. Realisiert man das Potenzial des gegenwärtigen Augenblicks, dann erlebt man auch einen Kairos-Moment, in dem möglicher Wandel sichtbar wird.
Das Potential, das in jedem Augenblick steht, ist begründet durch irgendetwas, das größer ist als der Augenblick. Laut Dr. Galuska läuft man in die Konstruktionen des Augenblickes der Gegenwart mit seinen Vorstellungen hinein und arbeiten diese ab, sodass sich Zeit zu etwas Verplantem und Organisiertem entwickelt. Daraus resultiert “Chronos”, was für eine linear ablaufende, verplante und organisierte Uhrzeit steht und in der es Termine, Vereinbarungen und Regeln gibt und in der bestimmten Dinge stattfinden, auf die man sich verständigt hat. Man hat also eine bestimmte Zeitkonstruktion im Kopf, die man normalerweise lebt und ablebt. Vergegenwärtigt man aber jeden Moment in seinem Potenzial, stellt man fest, dass es mehr ist als das, was man sich vorstellt und dieses “Mehr” kann in jedermanns chronologische Zeit einbrechen.
Die Vergegenwärtigung von Kairos im Alltag sieht der Gründer der Heiligenfeld Kliniken generell als eine Bewusstseinsfrage. Es ist im Grunde erst einmal ein Innehalten und ein Realisieren, wo man sich gerade befindet. Erst nach dem Bewusstwerden folgen Fragestellungen und Interpretationen, die dann bereits dazu führen können, dass man diesen einen Moment vergegenwärtigt und somit eine Art Bewusstsein für das Geschehene entwickelt. Hat man die Fragen für sich und den Augenblick beantwortet, so kann man das Potential in einem größeren Zusammenhang betrachten und die Fragen auf die Zeit beziehen, in der man gerade lebt. Dabei zählt nicht nur das Jetzt oder diese Uhrzeit, sondern auch der Zeitraum, in dem man gerade lebt.
Die Auswahl des Untertitels des Kongresses “Die Veränderung gestalten” erklärt Dr. Galuska als Resultat auf die Frage, ob diese Zeit ein Potential in sich trage und falls das gegeben sei, ob man auf diesem Moment gestaltend einwirken möchte. Er fügt an, dass man in einer Zeit lebt, die aufgeladen ist durch Spannungen, Grenzen des Wachstums und Konflikte. In solchen Zeiten liege immer auch ein Veränderungspotential, die der Frage nach dem “Wohin” nachgehen soll.
Einfluss der Digitalisierung
Als nachvollziehbares Beispiel führt Dr. Galuska Smartphones an. Die meisten Menschen haben ein solches und man kann sich dessen kaum entziehen, wird unbewusst vorwärts gedrängt und denkt gar nicht darüber nach. Man wird von großen Zeitströmungen bestimmt. Dennoch gibt es aber die Möglichkeit, in solchen Situationen gestaltend in diesen Veränderungsprozess einzugreifen.
“So könnte man z. B. für sich entscheiden, das Smartphone öfter einmal auszuschalten, oder bewusst nicht zu benutzen, wenn man mit Menschen direkt im Kontakt ist”, schlägt Dr. Galuska vor.
Generell bewertet er aktuell den Einfluss der Digitalisierung auf solche Momente als negativ, da die Digitalisierung und Medien jedermann ständig beschäftigen und mit Informationen überfluten und somit die Menschheit nicht in Ruhe und eigenständig denken lässt. Weiter kritisiert er, dass die
Medien mehr Fragen stellen und weniger permanent manipulative Berichterstattung betreiben sollten, denn sie ruft nicht zum Fragen oder Innehalten auf, sondern versucht, permanent zu provozieren und (Pseudo-)Antworten zu geben.
Den eigenen Wandel gestalten
Sich selbst kann man u.a. Fragen stellen wie: „Wohin wollen wir? Wo bin ich? Wo stehen wir alle gerade? Oder wohin gehen wir? Was ist los?“ und wenn man erkennt, dass etwas passiert und dass etwas los ist in dieser Welt, dann wird die Frage sein „Wohin wollen wir gehen?“ oder auch „Welchen Impuls will ich dem Veränderungsprozess geben?“
All diese Fragen können einen zu einer weiteren Frage führen, nämlich “wie kann man den Wandel, der gerade stattfindet, gestalten und mitgestalten, ohne dass man selbst mitgestaltet wird?” so Dr. Joachim Galuska. Er weist darauf hin, dass es sich nicht vermeiden lässt, dass man selbst mitgestaltet wird, aber man kann auch gestaltend Einfluss nehmen, indem man sich selbst klar macht, was das einem in seinem Handeln leitet oder was man bewegen oder inspirieren möchte. Wenn man nach diesen Kriterien sucht, dann führt das automatisch zu der Frage zu den tieferen und inneren Werten. Wenn man sich dann schließlich diese tiefen inneren Fragen stellt, ist es letztlich eine Bewusstseinsfrage, die einen dazu führt, die Frage nach den Werten immer wieder neu zu stellen und die Frage nach dem Bewusstsein, das in der Lage ist, diesen Wandel zu erfassen und in diesem Wandel gestaltend mitzuwirken.
Tipps für die Umsetzung
Als Tipp für den Privatmenschen empfiehlt Dr. Galuska, dass man an sich selbst arbeiten und ein Bewusstsein herstellen muss, das in der Lage ist, mitzuwirken. Dieses Bewusstsein muss sowohl frei sein, als auch entschlossen. Es muss offen sein für alles, für neue Ideen und zugleich verantwortlich, verbunden mit all den Dingen sein und bereit sein sich zu engagieren. Das kann man zum Beispiel herstellen, indem man achtsamer ist, man inne hält und meditiert, indem man mit Freunden redet, sich Zeit nimmt oder Abstand nimmt. Das ist die erste Voraussetzung, so eine Besonnenheit ein einem selbst herzustellen, die in der Lage ist, diese Kairos-Qualität und das Potenzial darin überhaupt wahrzunehmen. Überträgt man das dann auf die Felder, in denen man lebt, könne man sich fragen: “Was bedeutet das im Umgang mit meinen Kindern, meinem Partner, meinen Freunden, meiner Verantwortung für das Dorf und die Straße und in der Gesellschaft, in der man lebt.”
Denn am Ende geht es darum, dass man mit sich selbst ins Reine komme und dass man sich selbst entspricht und sich nichts vormacht. Man ist immer gefährdet, sich etwas vorzumachen, wenn man mit dem alltäglichen Tunnelblick einfach weiter läuft und sagt “Ich kann nächstes Jahr darüber nachdenken, ob alles gut läuft. Jetzt muss ich erstmal dies und das machen“, so Dr. Galuska. Die Menschen haben meistens irgendwelche Dinge, die sie als Erstes erledigen müssen und vorhaben, bevor sie Zeit haben über das Leben nachzudenken. Es müsste eigentlich genau anders herum laufen.
Einen Wandel gestalten kann man immer und überall. “Kairos ist immer, Kairos ist jetzt, jetzt ist immer, überall ist jetzt, jetzt und überall, immer ist überall.” Es ist immer und überall möglich zu erkennen, dass es etwas Größeres gibt, zu dem man Kontakt aufnehmen kann und das einem eine Antwort geben kann für das, was zu tun ist.
Auch in Organisationen und Unternehmen gibt zur Zeit eine große Welle der „Achtsamkeit“. Nach Ansicht von Dr. Joachim Galuska, ist das ein kleiner Anfang.
In den Heiligenfeld Kliniken wird Achtsamkeit immer wieder in Erinnerung gerufen, z. B. durch Achtsamkeitstage, stille Momente, durch Texte, durch Zimbeln usw. In Heiligenfeld werden die Mitarbeiter daran erinnert, einmal auszusteigen, inne zu halten und bewusst dafür zu werden, was sie tun. Er sieht dies als einen ersten großen Schritt, um ein gewisses Bewusstsein zu erhalten und aufzuwachen aus dem Alltagstrott, in dem man einfach irgendwelche Dinge tut und sich ständig rechtfertigt, oder gar Anderen die Verantwortung in die Schuhe schiebt, wenn irgendetwas nicht läuft oder wenn man es selbst bequem haben möchte.
Für die Umsetzbarkeit bedarf es aber ein Unternehmen, die solche Werte lebt und eine solche Philosophie verfolgt. Ein Unternehmen, in dem man versucht, sich gegenseitig ernst zu nehmen und begreift, dass ein Unternehmen ein Wirtschaftsorganismus ist, der dadurch lebt, dass jeder die Verantwortung übernimmt für den Platz, den er hat und für den er bezahlt wird. Dadurch entwickelt sich jedes Unternehmen weiter und es gibt den Menschen dadurch verschiedene Entwicklungsräume und Mitgestaltungsräume.
Selbst die Übertragbarkeit in alle anderen Lebensbereiche bejaht Dr. Joachim Galuska und vergleicht es mit der Schule, der Bildung und den Kindergärten. Denn auch hier könne man sich fragen, was man tun kann, dass Kinder aufwachen und aufwachsen zu mündigen selbstverantwortlichen Menschen: Menschen, die eine Wachheit besitzen und nicht einfach nur Wissen eingetrichtert bekommen, von dem sie vieles in ihrem Leben gar nicht brauchen. Sie entwickeln oft gar keine Lebenskompetenz und können nicht mit ihrer Gesundheit umgehen. Hierfür muss man nur mal die Zahl psychisch kranker oder übergewichtiger Kinder herannehmen. Man sollte sich darum kümmern, dass Kinder in der Lage sind, wach und achtsam zu sein mit sich und ihrer Entwicklung.
Für die Umsetzung braucht es dazu aber auch Lehrer. Lehrer, die sich dessen bewusst sind, dass man nicht unter Druck die besten Schüler rausfiltern und die Anderen in irgendein anderes System reinbringen muss. Lehrer, die nicht ständig nur den Lehrplan abarbeiten, und auf deren Gesundheit letztendlich auch keine Rücksicht genommen wird.
In einer Kairos-Zeit kann man in die Grundsätze hineinschauen. Man sollte sich fragen stellen wie: “Wozu ist eigentlich Wirtschaft da? Wozu ist eigentlich Bildung da? Wozu sind eigentlich unsere Medien da? Wozu sind unsere Politiker da und was ist im menschlichen Zusammenleben und in der Kultur unseres Zusammenseins als Menschen wichtig? Was ist eigentlich der Sinn der ganzen Dinge?” Wenn man tief in sich geht und in sich hinein schaut, würden man wahrscheinlich Gemeinsamkeiten finden. Nämlich, dass es um Liebe geht, um Solidarität, Gerechtigkeit, Frieden. Aber wenn es um die Umsetzung geht, dann zerstreitet man sich, weil Egozentrik, Machtinteressen und Gier der Menschen in den Vordergrund treten und das alles übernehmen.
Kairos in schwierigen Zeiten
“Der Mensch lernt vorwiegend durch Schmerz und Leid, aber sicher nicht nur”, sagt Dr. Galuska. Es gäbe aber auch die Chance, dass man sich einfach aus dem Wunsch nach Entwicklung und aus der Sehnsucht nach weiterer Entfaltung heraus entwickeln könne. Aber Tatsache ist, dass man in Momenten der Krise, des Scheiterns, des Schmerzes, des Leidens aufwacht und sich fragt, was eigentlich los sei, warum man in dieser Krise sei und wie das jetzt weiter gehe. Man kann immer wieder versuchen, die alten Mittel zu verwenden und möglicherweise auch wieder scheitern, weil die alten Mittel nicht tauglich sind. Man kann sich aber auch der Krise stellen, auch wenn es nicht so einfach ist, denn selbst in persönlichen Krisen ist man nicht alleine, weil immer Menschen um einen herum sind, die helfen können. Man muss dafür nur offen und ehrlich sein und sich auch gegenseitig eingestehen, dass man Hilfe braucht.
“Kairos lehrt, Kontakt aufzunehmen, zu einer Vision, in der es erstmal keine Antwort gibt, sondern nur diese Dimension. Manchmal ist es so, dass man die Krise vergegenwärtigen muss, um eine Antwort darauf zu erhalten.” Man fragt sich „Was ist jetzt?, „Was ist los?“. Denn es trifft im Persönlichen auch so oft zu, dass man nicht weiß, wo es lang geht und was man machen soll und auch eine schnelle Antwort nicht gut wäre. Aber es wäre wichtig zu sagen: „Ich bin in einer Krise und ich weiß nicht wie es weiter geht, aber ich realisiere das und ich habe Menschen, mit denen ich das zusammen aushalte.”, so der Leiter des Kongresses.
Rilke hat gesagt, dass es darum geht, Fragen zu stellen. Und manchmal lebt man dann in die Antworten hinein und merken erst später, dass man die Antworten gefunden hat, ohne dass man sie schon verstanden hat, weil man in diese Antworten hineingelebt hat. Das ist aber nur passiert, weil man bereit gewesen ist, ganz wach und offen und in einem guten Kontakt mit anderen, die Fragen offen zu halten, diese großen Fragen, in denen man zur Zeit als Menschen steht. Vielleicht bekommt man Antworten, und wenn es an dieser Stelle keine Antworten gibt, dann muss man vielleicht andere Fragen stellen.