Wenn der Atem stockt – Polizisten als Patienten in der Parkklinik Heiligenfeld
Das Interview führte Ralph Sandvoß
Herr Schmitt, Sie erleben und behandeln psychisch erkrankte Patienten aus unterschiedlichen Berufsgruppen, auch Polizisten. Sind Polizisten besondere Patienten ?
Natürlich sind Polizisten besondere Patienten – in erster Linie natürlich, weil jeder Patient ein besonderer Patient ist und in seiner Besonderheit gesehen wird – mit seiner ganz persönlichen Geschichte. Wir sehen den Patienten in erster Linie als Menschen – mit seinen speziellen Erfahrungen und Bedürfnissen. Erst später beziehen wir in unsere Betrachtung auch seine Eigenarten und jene Problemfelder mit ein, die durch seinen Beruf geprägt sind. Aber auch da sind mir bei Polizisten als Patienten schon einige Besonderheiten aufgefallen. Der Polizeidienst zählt aber auch einfach zu einer stressigen Tätigkeit. Polizisten werden deshalb genauso wie andere Patienten im Sinne eines effektiven Stressmanagements behandelt.
Sie deuteten aber bereits auf Besonderheiten der Polizisten als Patienten hin …
Ja. In der direkten therapeutischen Arbeit mit Polizisten sind mir einige markante, auch wiederkehrende Prägungen, Verhaltensweisen, aber auch Kompetenzen aufgefallen. Ich habe nach diesen Beobachtungen einige spezielle Therapieangebote ausgerichtet, die sich auch schon bewähren konnten. Ich kann Ihnen spontan vielleicht ein paar Aspekte beschreiben: Da ist zum einen die besondere Fähigkeit der Selbststeuerung oder Selbstkontrolle. Polizisten haben in ihrer Ausbildung und in ihrem Berufsalltag gelernt, sich auch in extremen Situationen zu beherrschen, sich unter Kontrolle zu halten, handlungsfähig zu bleiben, auf Gelerntes und eigene Ressourcen zurückzugreifen. In seiner negativen Übersteigerung kann eine solche permanente Selbstkontrolle, dieses Zurückhaltungsgebot oder gar diese erzwungene Selbstbeherrschung natürlich zu mangelnder Selbstwahrnehmung, zum Abschneiden eigener Gefühle bis hin zur Spaltung der Persönlichkeit führen. Das ist eine Gefahr, da kann und muss Therapie natürlich ansetzen. Auf der anderen Seite ist diese Fähigkeit zur Selbststeuerung aber eine ganz wesentliche Kompetenz für die eigene Gesundheit, die wir vielen anderen Patienten in der Therapie erst grundlegend beibringen müssen. Polizisten bringen da schon eine wichtige und nutzbare Vorerfahrung mit. Was früher zur Beherrschung beruflicher Situationen genutzt wurde, nutzen wir für unsere Patienten jetzt für die eigene Selbstfürsorge, für die Bewältigung persönlicher konfliktärer Beziehungen, für die Regeneration und Entspannung, für die Integration von Gefühlen und Gedanken, für die Vermeidung von eskalativen Prozessen in Körper und Geist. Das ist sehr hilfreich, Selbststeuerung für die eigene Gesundheit einzusetzen.
Die Fähigkeit zur kognitiven Selbststeuerung kommt uns auch an anderer Stelle der Therapie sehr zugute, die für Polizisten sehr heilsam sein kann – bei der Arbeit mit inneren Einstellungen und Glaubenssätzen. Bei dieser Arbeit versuchen wir, verinnerlichte Glaubenssätze zu identifizieren, die unser Verhalten steuern, die manchmal derart stereotyp verlaufen, dass sie uns in eine Sackgasse führen, uns zu übersteigerten Anstrengungen veranlassen oder nicht mehr kommunikationsbereit machen, die sich letztendlich als destruktive Lebenseinstellungen herausstellen.
Wie ich immer wieder erleben konnte, bringen viele Polizisten äußerst prägende, stark wirkende Vorstellungen und Glaubenssätze mit, die ihren Lebens- und Berufsweg nachhaltig beeinflusst haben.
Ein Beispiel: In einer aufdeckenden, sehr intensiven Arbeit mit einem Polizisten begegnete uns der Satz: „Mach uns keine Schande, das fällt auf uns zurück“. Unser Patient entdeckte dann für sich sehr schnell, welche immense subtile Kraft dieser Satz für sein Leben und seinen Beruf besaß. Schon immer hatte er versucht, es allen Recht zu machen, sich nach außen immer akkurat, verlässlich, auch über seine Grenzen hinweg belastbar darzustellen, auch in extremen Situationen hatte er sich nichts von seiner Betroffenheit anmerken lassen, mit niemanden hatte er seine inneren Verletzungen geteilt, sich keine Unterstützung oder gar eine Auszeit erbeten. Er fühlte sich sein Leben lang der Gefahr von Versagen, Scham und Schuld ausgesetzt. Ich muss fast sagen: Menschen mit solchen Prägungen sind nahezu prädestiniert für ein Burnout oder eine Erschöpfungsdepression. Da erweist sich die Arbeit mit inneren Glaubenssätzen bei Polizisten als äußerst heilsam.
Als drittes möchte ich Ihnen eine Sache nennen, die mir vielleicht als aller erstes bei Polizisten als Patienten auffiel, manchmal schon, wenn sie gerade in der Klinik ankamen. Ihnen war, wie man so sagt, buchstäblich der „Atem gestockt“. Die Menschen erschienen mit angespannter Körperhaltung, ich möchte sagen mit enger Brust, sie sprachen angestrengt, manchmal heiser, irgendwie sah man vielen ihre Betroffenheit schon an. Wie sich später fast immer herausstellte, hatten viele unserer Patienten wirklich mehrfach oder häufig, manchmal aber auch nur einmal und doch sehr prägend – äußerst dramatische oder erschütternde Situationen erlebt. Ihnen war dabei offensichtlich der Atem gestockt. Diese geistig-seelischen Erschütterungen hatten sich traumatisch im Körper manifestiert. In der Psychosomatik kennen wir zahlreiche Symptome im Wirbelsäulen-, Kopf-, Brust-, Herz-Bereich, die mit Blockaden nach erschütternden Erlebnissen verbunden sein können. Diesen Polizisten kommen wir mit unseren Atem- und Körpertherapien sehr entgegen. Ob dynamisches Atmen, bioenergetische Übungen, Meditationen oder auch therapeutisches Karate – diese Methoden helfen den Körper und Geist wieder aus der Anspannung und Blockade in die Bewegung und Beweglichkeit zu bringen. Sie helfen, eigene Gefühle und Bedürfnisse wieder besser wahrzunehmen, wieder offener gegenüber anderen Menschen und Kollegen zu sein, sich wieder sicherer und wohler in seiner Haut zu fühlen und sich so auch weniger abzuschotten gegenüber der Umwelt.
Wenn der Atem wieder fließen kann, kommt das Leben wieder in Gang.
Heißt das: Polizisten erkranken vor allem aufgrund von Selbstüberforderung oder traumatischen Erlebnissen ?
Ja, das sind sicher zwei Hauptindikationen. Erschöpfungsdepression und Trauma.
Wenn ich mir vorstelle, in welchem Umfeld Polizisten täglich agieren – hier ist Selbstschutz und Distanz gefragt. Wenn ich mir vorstelle, in welchem hierarchischen, bürokratischen, auch sehr männlichen System sie beruflich sozialisiert sind – man spricht ja auch von strengem Corpsgeist, Cop Culture, besonderer Berufsehre usw. Wie zugänglich sind Polizisten überhaupt für diese weichen, tiefenpsychologischen oder auch körperorientierten Therapie-Methoden ? Lassen sich Polizisten auf Gruppentherapie ein ?
Ebenso wie andere Patienten brauchen auch Polizisten eine gute Woche, um hier anzukommen und sich mit den Methoden vertraut zu machen. Dann erleben sie aber sehr schnell, wie nützlich diese Verfahren sein können. Vor allem die therapeutische Gemeinschaft, das intensive und offene Zusammenarbeiten der Mitpatienten, schafft bald eine Offenheit, sich auf die Therapieangebote einzulassen. Die Polizisten erleben ja zum Teil auch das erste Mal, wie eine wirklich unterstützende Solidargemeinschaft aussehen kann. Und Polizisten sind ja auch irgendwie Macher und handfeste Typen. Und wir arbeiten auch sehr erlebnis- und erfahrungsorientiert. Wie in deren Beruf – learning by doing. So lassen sich auch Polizisten sehr schnell auf unsere Angebote ein. Und wir gestalten die individuellen Therapiepläne auch gemeinsam mit unseren Patienten. Niemand muss hier etwas machen, wofür er gar keine Offenheit mitbringt. Wir bauen auf eigene Therapiemotivation.
Was nehmen Polizisten konkret für Ihren Beruf aus der Therapie mit ?
Ich möchte Ihnen das mal ein wenig philosophischer beantworten. Natürlich nehmen sie eine Menge an Stressbewältigungskompetenz, Möglichkeit zur konstruktiven Deutung schwieriger Erlebnisse, emotionaler Selbstkontrolle und sensibler Selbstwahrnehmung usw. mit. Aber vielleicht ist es vor allem etwas anderes, das ihnen weiterhilft. Die Erfahrung und das Erleben, dass ich als Mensch immer einen inneren Ort finden kann, an dem ich unverletzbar, autonom, und sicher bin. Dass es immer ausreichend Gründe für ein eigene Würdigung, Wertschätzung und Mitgefühl für mich gibt, dass es immer einen guten und sinnhaften Grund gibt, auch diesen Beruf eines Polizisten auszuüben.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schmitt