Der Sinn des Lebens. Danach fragt sich wohl jeder Mensch früher oder später einmal. Gerade in stürmischen Zeiten des eigenen Lebens werden wir auf existenzielle Lebensthemen wie Sinn, Tod, Lebendigkeit, Glaube und Spiritualität zurückgeworfen. Aus diesem Grund gibt es in den Heiligenfeld Kliniken neben den allgemeinen und kreativtherapeutischen Therapieangeboten auch jene, die sich mit den existenziellen Fragen des Lebens beschäftigen. Lara Pietzko, Leiterin der Kreativtherapien in der Heiligenfeld Klinik Berlin, leitete lange Jahre in Bad Kissingen die Behandlungsgruppen zu den existenziellen Lebensthemen.
Frau Pietzko, welche Angebote gibt es in den Heiligenfeld Kliniken für die Bearbeitung von existenziellen Lebensbereichen?
Aktuell bieten wir unseren Patienten drei wesentliche Therapiegruppen an. Diese sind “spirituelle und religiöse Krisen”, “Sterblichkeit und Tod” sowie “Glaube als Heilungsweg”. Diese drei Gruppen haben sich in der Praxis als besonders unterstützend für unsere Patienten erwiesen.
Wie kam es dazu, dass sich die Heiligenfeld Kliniken solchen Themen widmeten?
Die Einbeziehung der existentielle Dimension des Menschseins in die Psychotherapie war dem Gründer unseres Unternehmens Dr. Joachim Galuska von Anfang an ein großes Anliegen. Im Laufe der Jahre haben sich verschiedene Therapiegruppen weiterentwickelt oder neu etabliert. Gerade für Menschen, die in einer Lebenskrise stecken, sind die existenziellen Themen aber oft am wichtigsten, um überhaupt genesen zu können. Deshalb sind sie seit vielen Jahren wichtiger Bestandteil der Therapie.
Wie meinen Sie das?
Die Menschen, die in unsere Kliniken kommen, durchleben häufig eine Lebenskrise. Diese kann durch verschiedene Faktoren wie z. B. den Verlust eines nahen Menschen ausgelöst sein. Wer einen solchen Schicksalsschlag erlebt, ist sehr tief betroffen, der Lebensinhalt ist von einem auf den anderen Moment weg. In solchen Situationen wird uns die Endlichkeit unseres eigenen Lebens auf sehr schmerzhafte Art und Weise bewusst gemacht. Das oft schlimmste Gefühl für Betroffene ist die Ohnmacht. Sind wir es doch in unserem Leben oft gewohnt, die Gestalter zu sein, die alles beeinflussen können. Der Tod jedoch entzieht sich unserem Willen.
Und dann fühlen wir uns wie in einer Sackgasse?
Ja, so ist es. Wir können noch so oft sagen, dass wir nicht sterben wollen. Schon in dem Moment, in dem wir auf die Welt kommen, ist klar, dass wir irgendwann sterben werden. Aber das machen wir uns im Leben nicht bewusst. Wir denken oft, es geht immer so weiter wie bisher. Durch Krankheit oder den Tod merken wir aber dann, dass das so nicht ist. Der Umgang mit der eigenen Macht und Ohnmacht ist dann ein wichtiger Punkt. Wir bilden unsere Identität z. B. durch unseren Partner, unsere Familien oder unsere Arbeit aus. Fällt etwas davon weg, fragen wir uns, wer wir denn noch sind. Sind wir nur Mutter, Vater, Tochter, Sohn, Enkel, oder Führungskraft? Vielen Menschen fangen genau dann an, sich nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Deshalb ist es wichtig, dass wir solchen Themen in der Therapie einen Raum geben. Untersuchungen haben ergeben, dass gerade dieser Bereich wichtig für den Heilungserfolg ist.
Wie kann man sich solche Therapieeinheiten vorstellen? Geben Sie auf all die auftretenden Fragen eine Antwort?
Natürlich nicht. (schmunzelt) Auch wir Therapeuten wissen nicht alle Antworten auf die Fragen. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen zu vermitteln, dass ihre Erfahrungen – seien es Verlust, Missbrauch, oder andere traumatische Erlebnisse – schlimm sind und wir sie ihnen nicht abnehmen können. Aber wir können ihnen mit Mitgefühl, Respekt und Achtung begegnen und ihnen das Gefühl vermitteln, dass ihnen zwar Schlimmes widerfahren ist, aber dass wir Menschen mehr sind, als unsere Erfahrungen. Dabei hängt viel mit der Bewusstseinshaltung des Therapeuten zusammen. Die jahrelange Erfahrung mit schwer traumatisierten Patienten hat gezeigt, dass egal welche Erlebnisse man durchstehen musste, es immer einen heilen Kern gibt, der unberührt bleibt. Gerade Menschen, die vom Schicksal immer wieder gebeutelt werden und trotzdem immer wieder aufstehen und weitermachen, bei denen man manchmal denkt: “Mensch, wie halten die das bloß aus”, zeigen, dass es diesen heilen Kern gibt.
Und zu diesem “heilen Kern” versuchen Sie in der Therapie einen Zugang zu ermöglichen?
Ja, so ist es. Durch verschieden therapeutische Verfahren können wir den Patienten dabei helfen, ihren “heilen Kern” zu entdecken und ihn zu stärken. Was diesen Kern stärkt, ist ganz individuell. Das große Angebot an Kreativtherapien kann hier begleitend sehr hilfreich sein. Oft ist die Erfahrung, dass wir mehr sind als unsere Verletzungen schon der größte Meilenstein in der Therapie. Dafür braucht es Geduld und viel liebevolle Begleitung durch die Therapeuten. Wir können beobachten, dass ab diesem Moment Heilung geschieht. Die Patienten wirken plötzlich ganz anderes, nehmen ihr Leben wieder bewusster war. Ich beschreibe es immer wie eine Aufwärtsspirale, die neue Heilungsimpulse setzt.
Gerade den Umgang mit Macht und Ohnmacht stelle ich mir sehr schwierig vor. Was kann hier ein Ergebnis der Therapie sein?
Wir versuchen uns in der Therapie bewusst zu machen, dass es kein Schönes ohne Schrecken gibt. Das Negative gehört genauso zum Leben wie das Positive. Gerade die Frage nach dem “Warum” begegnet uns immer wieder in der Therapie. Wir glauben, dass wir alles beeinflussen können und denken, dass uns das Schlimme nicht passiert wäre, hätten wir uns anders verhalten. Aber wir müssen schmerzhaft anerkennen, dass wir nur manches beeinflussen können. Können wir hier loslassen und verstehen, dass wir nicht alles in unserer eigenen Hand haben, verspüren wir eine große Erleichterung. Natürlich können wir Vieles beeinflussen, z. B. wie wir uns ernähren, wie wir leben, welche Therapien wir bei Krankheiten wählen, aber letztendlich liegt das Ende nicht in unserer Hand. Dazu fällt mir ein schönes Gedicht von Rilke ein, das ich gerne zum Abschluss zitieren möchte:
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gib mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gib mir die Hand.
Rainer Maria Rilke
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Pietzko!