Achtsamkeit ist wohl in den letzten Jahren zur Modeerscheinung geworden. Aber was steckt wirklich dahinter? In den Heiligenfeld Kliniken ist Achtsamkeit seit der Gründung im Jahr 1990 bereits fester Bestandteil des therapeutischen Konzepts. Der Psychologe und Meditationslehrer Jochen Auer ist Leiter der Kreativtherapien in der Parkklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen und beschäftigt sich seit vielen Jahren in Selbsterfahrung und wissenschaftlich mit Achtsamkeit. Als Leiter der Therapiegruppe “Achtsamkeitstraining” in der Parkklinik Heiligenfeld erlebt er tagtäglich, wie Achtsamkeit Menschen in der Therapie verändern kann.
Herr Auer, was verstehen Sie in Heiligenfeld unter Achtsamkeit und wo hat dieser Begriff seinen Ursprung?
Achtsamkeit, wie sie heute in der Wissenschaft verstanden wird, hat ihre Wurzeln in den zweieinhalbtausend Jahre alten Überlieferungen des‚ Satipatthana-Sutra‘, der Lehrrede des Buddha von den Grundlagen der Achtsamkeit. Der Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn entwickelte 1979 auf Grundlage solcher buddhistischer Achtsamkeitsübungen ein Programm zur Stressbewältigung, das unter dem Namen MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction = Stressbewältigung durch Achtsamkeit) bekannt ist. Laut Kabat-Zinn bedeutet Achtsamkeit “Gewahrsein im Hier und Jetzt, ohne Urteil und Kritik”. Das klingt vorerst mal einfach, hat aber viel eine tiefere Tragweite, als wir uns vorstellen können. Denn es geht darum, sich in jedem Moment des Lebens seines Tuns bewusst zu werden, und zwar in einer liebevollen und wohlwollenden Art und Weise sich selbst gegenüber. Dabei wird uns immer klarer, dass alles, was wir tun, eine Ursache und eine Wirkung hat. Wenn wir also lernen, so bewusst wie möglich zu handeln, dann handeln wir mehr und mehr eigenverantwortlich anstatt unbewusste Opfer der Welt und der äußeren Gegebenheiten zu sein. Somit ist Achtsamkeitstraining eine Art fortwährende Bewusstseinsschulung, die letztlich zu einem freien Leben führt.
Die Heiligenfeld Kliniken arbeiten bereits seit der Gründung mit Elementen der Achtsamkeitspraxis. Als eine der ersten Kliniken überhaupt, war die Achtsamkeit fester Bestandteil der Therapie von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen.
Haben wir Menschen Achtsamkeit verlernt?
Ja, so könnte man es ausdrücken. Alleine, dass die Achtsamkeitspraxis Jahrtausende alt ist, zeigt, dass dieses Thema nicht erst heute in die Köpfe kommt. Die Probleme der Menschen waren ja auch schon immer da! Auch der Buddha zog ja anscheinend von zuhause aus, weil er unglücklich mit seinem Leben war. Im Buddhismus ist die Achtsamkeit mit den verschiedenen Meditationen schon ewig Bestandteil des Lebens. Und wenn ich genauer hinschaue, sehe ich, dass auch alle anderen Kulturen der Welt Übungen entwickelt hatten, die zur Achtsamkeit führen. Daraus folgere ich, dass es wirklich ein weltweites Bedürfnis nach Stille und Frieden im Geist bei allem Menschen gibt.
Es handelt sich also um eine Form der Geisteshaltung, die wir üben und trainieren können. Ich hatte mal die Begegnung mit einem buddhistischen Mönch, der sich darüber wunderte, warum wir im Westen so viele Körperpflegeprodukte besitzen, uns aber gleichzeitig keine Minute am Tag für unsere Geistespflege nehmen. Das hat mir wirklich eingeleuchtet, und hat mir geholfen, selbst mehr zu üben.
Wie kann man sich die Therapiegruppe “Achtsamkeitstraining” in Heiligenfeld vorstellen?
Kabat-Zinn sagt, dass die Achtsamkeit wie ein Muskel trainiert werden müsse. Der Vergleich gefällt mir, weil er für alle leicht verständlich ist. Und es stimmt: eine kontinuierliche Praxis schafft die Grundlage für ein achtsameres Leben. In der Therapiegruppe frage ich immer, warum die Patienten hier sind. Denn nur, wenn jemand motiviert ist, ist er auch bereit zu trainieren. Eine Motivation kann z. B. sein, dass man seine Ängste reduzieren will, oder wieder besser schlafen möchte, oder aus dem Grübeln rauskommen möchte. Letztlich ist immer jeder in der Gruppe motiviert, denn er will ja seinen Zustand, unter dem er leidet, vermindern. Dann besprechen wir auch die Schwierigkeiten, die uns daran hindern, zu üben und achtsam zu sein und wie man sie aus dem Weg räumen kann. Hier ist das Bewusstsein über die eigene Motivation auch sehr wichtig. Dann trainieren wir verschiedene Achtsamkeitsübungen und legen fest, wer, was wann üben möchte. So erarbeiten wir eine Trainingsstruktur und erzielen eine Verbindlichkeit. Die Patienten haben dann in den anderen Therapieeinheiten die Möglichkeit dazu, ihre selbst gesteckten Aufgaben zu durchleben und zu üben. Denn das ist ja auch der Alltag draußen, an dem wir ständig mit Aufgaben beschäftigt sind, die an uns gestellt werden. Ich lerne hier in der Klinik aber, damit neu umzugehen! Am Anfang jeder neuen Stunde werden die Erlebnisse dann wieder gemeinsam besprochen. Wo gab es Schwierigkeiten? Wo hat es gut funktioniert? Das ist alles sehr spannend und lehrreich für die Teilnehmer.
Welche Übungen erwarten die Patienten?
Wir üben z. B. das achtsame Atmen. Denn das ist die Grundlage jeder Achtsamkeitsübung. Und wir haben den Atem immer dabei, können diese Übung also auch im Alltag ausführen. Wir trainieren auch achtsames Gehen, den Bodyscan, eine Selbstmitgefühlspause, oder Umgang mit negativen Gefühlen und wie wir mit anderen Menschen achtsam umgehen. Die Übungen helfen uns dabei, im Hier und Jetzt anzukommen, ohne irgendetwas zu bewerten und zu verurteilen. Wenn man es mal genau betrachtet, verbringen wir mind. 95 % der Zeit damit, mit unseren Gedanken in der Vergangenheit oder in der Zukunft zu sein. Wir werten uns durch Geschehenes ab (wieso ist das damals so blöd gelaufen? Ich habe etwas falsch gemacht) und projizieren es auf die Zukunft (das wird wieder so laufen, ich kann es einfach nicht) und produzieren daraus wieder schwierige Gefühle (z.B. Angst). Achtsamkeitsübungen helfen uns dabei, unsere Gedanken und Gefühle bewusst zu beobachten und zu steuern, anstatt von ihnen beherrscht zu werden.
Für wen ist die Therapiegruppe geeignet?
Im Grunde ist die Achtsamkeitspraxis für jeden Menschen geeignet und sinnvoll. Wichtig ist, dass man sich zu einem gewissen Grad selbst steuern kann. Für Menschen, die z. B. aus Angst in Ohnmacht fallen, wenn sie die Augen schließen, ist sie deshalb im ersten Teil der Therapie nicht geeignet. Diese Patienten könnten allerdings auch von einem Achtsamkeitstraining profitieren. Sie müssen nur sehr langsam herangeführt werden. Menschen mit Depression, Schmerzstörungen, Angst, Traumata, Burnout, Essstörungen, Adipositas, oder Sucht erleben durch die Achtsamkeitspraxis meistens eine signifikante Besserung ihrer Beschwerden. Diese wurden auch schon vielfach wissenschaftlich bewiesen. Auch Führungskräfte und Lehrer profitieren sehr davon, denn nur wer sich selbst gut führen kann, kann auch andere Menschen anleiten.
Was haben die Patienten außerdem von dem Erlernten?
Zum einen ist es natürlich hilfreich in der Therapie, da es Vieles erstmal verlangsamt, wenn man achtsam ist. Lang gepflegte Reaktionsmuster werden durch die Langsamkeit ersichtlich und mit therapeutischer Unterstützung verändert. Dann führt es zu einem besseren Umgang mit sich selbst, da die Selbstverurteilung sich verringert. Der innere Selbstkritiker ist nämlich der größte Sklaventreiber von uns Menschen. Wir bekommen eine gesunde Distanz von negativen Emotionen. Zudem kann Achtsamkeit für einen besseren Schlaf sorgen, wir werden ruhiger und erhalten Abstand vom Grübeln. Ein neuer Umgang mit Schmerz, das Wiedererlangen von Selbststeuerung und damit Befreiung aus der Opferrolle, das Spüren des eigenen Körpers und ein liebevollerer Umgang mit sich selbst sind weitere Effekte der Achtsamkeitspraxis.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Auer.
Tipp:
Möchten Sie selbst einmal erfahren, was z. B. eine “Pause des Selbstmitgefühls” ist? Dann hören Sie unseren Podcast zum Thema an. Oder lesen Sie den Erfahrungsbericht eines Patienten, der sagt, dass die Meditation “sein Anker ist”.