Kreativität in Krisenzeiten

Christian Horras ist Leiter der Kreativtherapie in der Rosengarten Klinik Heiligenfeld. Der studierte Kunsttherapeut arbeitet seit vielen Jahren in den Heiligenfeld Kliniken und unterstützt unsere Patientinnen und Patienten dabei, ihren eigenen Zugang zur Kreativität (wieder) zu finden. Gerade in der aktuellen Zeit, in der wir zunehmend von außen reglementiert werden, ist die Besinnung auf die eigene Kreativität eine wichtige Ressource. Wie man diese Ressource nutzen kann, hat er mir in einem Interview erzählt.

Kann Kreativität den psychosozialen Belastungen unter Corona entgegenwirken?

Horras: “Ich meine ganz entschieden Ja! Neben den vielfach genannten Einschränkungen und seelischen Belastungen, die die Corona-Pandemie vielen Menschen auferlegt – wie Angst, Isolation oder ganz real erfahrenes Leid durch Krankheit, Tod oder Verlust – bietet diese Krise auch eine Chance für jeden einzelnen und die Gesellschaft. Denn das erzwungenermaßen Zurückgeworfen-Sein auf sich selbst beinhaltet ja auch die Möglichkeit innezuhalten und sich dann im besten Fall seiner eigenen kreativen Potentiale wieder bewusst zu werden. Jeder Mensch ist kreativ, jeder gestaltet gerne – das können wir bei Kindern beobachten, die mit Interesse und Freude einen Stift in die Hand nehmen und sich an der entstehenden Malspur erfreuen. Kreativität gehört zu unserem Menschsein dazu. Joseph Beuys sagte: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ und meinte damit, dass diese kreative Kraft in jedem von uns wohnt und auch genutzt werden möchte. Wenn wir kreativ sind, verlassen wir die passive Opferrolle. Wir werden wieder zum Gestalter und diese Erfahrung können wir dann auch in unserem Alltagsleben anwenden. Und dazu könnte die freie Zeit, die durch die Corona-Pandemie gewonnen wurde, durchaus genutzt werden. Ein kreatives Hobby reaktivieren oder sich einer Kunstform ganz neu zuwenden.

So kann kreatives Tun den Belastungen durch Corona eine produktive Kraft entgegensetzen. Die Einschränkungen müssen wir ja akzeptieren, wir müssen uns an die Gesetzte halten und uns in die Situation einfügen. Während des kreativen Tuns können wir jedoch selbst gestalten, ausprobieren, sind frei in unseren Handlungen und Möglichkeiten. Diesen Raum der Freiheit und Gestaltung halte ich für enorm wichtig, gerade in dieser Zeit voller Einschränkungen. Das geht natürlich nicht, wenn man den ganzen Tag vorm Fernseher sitzt und Serien anschaut.”

Kreativität kann also zur Resilienz beitragen?

Horras: “Ja, natürlich. Das kreatives Tun die Gesundheit fördert, ist in vielen Studien belegt und viele Faktoren, die die Resilienz ausmachen, finden sich auch im Prozess des kreativen Gestaltens.

Wie schon gesagt, werden wir im kreativen Tun wieder selbst zum aktiv Handelnden. Allein das fördert unser Selbstbewusstsein und unser Gefühl für Selbstwirksamkeit. Wir sind stolz, wenn uns ein Bild gelungen ist, ein selbst verfasster Text gefällt oder das Blumenbeet im Garten kunstvoll angelegt haben. Wir erleben dabei Sinn und ein Gefühl der Zufriedenheit. Zudem wirkt kreatives Gestalten identitätsstiftend, wir geben ja in jedes gestaltete Werk ein bisschen von uns selbst herein, und das wirkt dann wieder auf uns zurück. Wir gestalten also nicht nur das Werk, sondern dabei auch immer uns selbst, wir entwickeln uns quasi im kreativen Tun, kommen mit Aspekten unserer Persönlichkeit in Kontakt, die wir sonst vielleicht niemals beachtet hätten.

Gleichzeitig fördert ein kreativer Prozess auch psychische Merkmale wie Frustrationstoleranz, Flexibilität oder Durchhaltevermögen. Denn es ist ja nicht so, dass beim Gestalten immer alles wunderbar und sofort funktioniert. Da muss mit unangenehmen Gefühlen umgegangen werden oder mit Problemen, die sich während des Tuns plötzlich ergeben. Manche Kunstform braucht auch Ausdauer und Übung, etwa Klavierspielen. Da lernt man Geduld, Bescheidenheit und macht gleichzeitig die Erfahrung, dass sich dieses beharrliche Interesse und Üben auszahlt, wenn man nämlich mit der Zeit merkt, dass man Fortschritte macht.”

Was wird noch durch Kreativität in uns freigesetzt?

Horras: “Darüber hinaus – und das finde ich in der jetzigen Zeit, in der viele Menschen öfter alleine oder isoliert sind, enorm wichtig – bietet uns kreatives Tun auch Beziehungserfahrungen an. Zum einen kommen wir zwangsläufig mit uns selbst und unserer reichen Innenwelt in Kontakt. Jeder von uns trägt unzählige ureigene Welten in sich. Diese zu entdecken kann spannender sein als vorgefertigte Angebote von außen zu konsumieren. Gleichzeitig geht man auch eine Beziehung mit dem Material an sich ein. Zum Beispiel beim Malen mit Pinsel, Farben und Malträger. Man erlebt dabei sich, seine eigenen Gefühle, Gedanken, Empfindung und auch das Gegenüber, also den materiellen Stoff, aus dem das kreative Werk besteht, nimmt z. B. die Frische des Grüntons wahr oder die Sprödigkeit des Leinwandstoffs, das Hinübergleiten des Stifts auf dem Papier…

Durch kreatives Tun schult man also auch seine Sinnenhaftigkeit, wird sensitiver und man erlebt seine persönliche Welt frischer, anders, intensiver: Den Sonnenaufgang, den Duft des Kaffees, die Rinde eines Baums…

Viele dieser genannten Merkmale gelten auch als Resilienz- Faktoren. Insofern könnte man zusammenfassend sagen, dass Kreativität Resilienz fördert und mitbedingt. Und schließlich wirkt kreatives Gestalten auch therapeutisch. Es wirkt entlastend und ausgleichend auf die Psyche. Carl Gustav Jung sagte dazu: „Denken Sie sich z .B. eine Fantasie aus und gestalten Sie sie mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Kräften. Gestalten Sie sie, als wären Sie selbst die Fantasie oder gehörten zu ihr, so wie Sie eine unentrinnbare Lebenssituation gestalten würden. Alle Schwierigkeiten, denen Sie in einer solchen Phantasie begegnen, sind symbolischer Ausdruck für Ihre psychischen Schwierigkeiten; und in dem Maße, wie Sie sie in der Imagination meistern, überwinden Sie sie in Ihrer Psyche.“ Und andernorts meint er: „In dem Maße, wie es gelang, die Emotionen in Bilder zu übersetzen, das heißt, diejenigen Bilder zu finden, die sich in ihnen verbargen, trat eine innere Beruhigung ein.“

Gehört Kreativität zu einem beseelten Leben?

Horras: “Leben, Seele und Kreativität sind für mich Synonyme, sie gehören also unabdingbar zusammen. Der ganze Kosmos ist ein einziger kreativer Prozess, die gesamte Evolution besteht aus einer Reihe sich immer wieder neugestaltender Kräfte. Mir fällt da eine Zeile aus Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ ein: „Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen. Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.“ Für mich spricht Hesse darin ein Urprinzip des Lebens an: Der offene Wandel – das immer wieder loslassen und sich neu einlassen, der auf Entfaltung ausgelegt ist. Das macht Lebendigkeit aus. Im Gegensatz dazu entstehen Krankheit und Unordnung, wenn man an etwas festhält oder stehenbleibt. Dann sind Füße und Hände gebunden, man kann sich nicht mehr bewegen und kann nicht mehr gestalten…wir werden zum leidenden Opfer. Insofern bin ich der Überzeugung, nur der gestaltende Mensch ist ein gesunder Mensch, da er mit der großen Ordnung – nämlich dem kreativen Seins-Modus – in Einklang lebt.

„Creare“ – Erschaffen, davon sprechen auch alle großen Religionen in ihren Schöpfungsmythen. Und seitdem es Menschen gibt, finden sich Zeugnisse ihrer kreativen Gestaltungen, etwa die Höhlenmalerei von Chauvet oder die Venus von Willensdorf. Kreativität ist also ein elementares Bedürfnis von uns Menschen und bringt uns gleichzeitig mit dem großen Ganzen in Kontakt. Kunst berührt die Seele, transzendiert unsere menschlichen Erfahrungen und hebt sie auf eine andere, eben über-persönliche Stufe. Im kreativen Tun erleben wir uns als Teil dieses unglaublich schönen, herausfordernden und komplexen Gefüges, das wir Leben nennen.

Leben will sich gestalten. In Dir, in mir, in jedem Lebewesen.”

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Christian Horras

Christian Horras ist seit 2011 im Unternehmen tätig. Als studierter Kunsttherapeut schätzt er besonders das ganzheitliche Behandlungskonzept in Heiligenfeld, das viele kreativtherapeutische Ansätze integriert und sowohl Patienten als auch Mitarbeitern kreative Freiräume in ihrer therapeutischen Zusammenarbeit lässt.

Er hat Lehraufträge im Fach Kunsttherapie an der Akademie der Bildenden Künste München und am Institut für Kunst und Therapie München. Daneben leitet er eine berufsbegleitende Zusatzausbildung zum Kunst- und Gestaltungstherapeuten an der Akademie Heiligenfeld.

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