Wir Menschen sind enorm anpassungsfähige Wesen, und den allerwenigsten von uns – eigentlich möchte ich behaupten: Niemandem! – ist ein Leben ohne kleine oder große Schicksalsschläge vergönnt. Wir erleiden Verluste nahestehender Personen, erkranken schwer, müssen Unfälle verkraften oder werden Opfer einer Gewalttat.
Als Chefärztin der Fachklinik Heiligenfeld arbeite ich tagtäglich mit Menschen, die in ihrem bisherigen Leben schlimme und schlimmste Erfahrungen gemacht haben und mit den Folgen umgehen müssen. In der Behandlung sind die erlittenen Verletzungen selbstverständlich Teil der Auseinandersetzung, doch wäre es zu kurz gegriffen, sich alleine darauf zu fokussieren. Genauso wichtig ist die Frage nach den Stärken und Potenzialen, die jeder Mensch uneingeschränkt und jenseits aller Belastungen in sich trägt – ganz im Sinne der humanistischen Psychotherapie.
Jetzt also Corona! Seit mehr als einem Jahr verbringen wir unsere Tage im Schatten der Krise – und erleben immer mehr, wie sehr dieser Ausnahmezustand uns belastet, auslaugt und erschöpft. Natürlich gilt: Jeder Mensch ist einzigartig und erlebt die Corona-Pandemie absolut individuell, im privaten und beruflichen Kontext, allein und innerhalb seines sozialen Gefüges, in unterschiedlichsten wirtschaftlichen Verhältnissen. Auch unsere Patient*innen bringen ihre unverwechselbare Geschichte in die Therapie mit ein, ihren ganz persönlichen Ausgangspunkt für Veränderungen. Die Methoden, die zur Anwendung kommen, sind jedoch ähnlich:
Vertrauensvoller Kontakt, Übungen zur Selbststeuerung, Achtsamkeit, Hinterfragen verzerrter Denkmuster, Förderung des Erlebens von Selbstwirksamkeit und körperliche Aktivitäten.
Corona macht uns in aller Deutlichkeit darauf aufmerksam, wie zerbrechlich unser Leben in all seinen Facetten eigentlich ist.
Bisher Selbstverständliches ist – hoffentlich nur vorübergehend! – undenkbar. Wir müssen auf so vieles verzichten, worüber wir uns bis vor Kurzem keinerlei Gedanken gemacht hatten. Um hier nicht zu verzagen, ist es wichtig, sich auf die Bereiche zu besinnen, in denen ich trotz allem die Kontrolle habe, also: Muss ich zum x-ten Mal die aktuellen Nachrichten lesen, oder entscheide ich mich lieber dazu, ein Telefonat mit einer mir wichtigen Person zu führen? Wo habe ich das Gefühl, etwas entscheiden und bewirken zu können? Psycholog*innen sprechen von Selbstwirksamkeit, und auch im Hinblick auf den vielgenutzten Begriff der Resilienz spielt das Erleben von Kontrollierbarkeit eine wichtige Rolle. Letztlich geht es um die Frage: Wie schaffe ich es, trotz aller Widrigkeiten in Kontakt mit meinen Stärken und Ressourcen zu kommen? Was brauche ich dafür? Oder wen? Denn Resilienz kann auch heißen, aktiv Hilfe und Unterstützung einzufordern und in Anspruch zu nehmen – jetzt genauso wie nach der Corona-Pandemie.
Achtsamkeit in der Therapie
Das integrative Behandlungskonzept in den Heiligenfeld Kliniken verbindet gesprächsorientierte, kreativ- und körpertherapeutische sowie achtsamkeitsbasierte Methoden. Angesichts der Corona-Pandemie spielen insbesondere die Angebote zur Spiritualität eine zentrale Rolle – als Möglichkeit der Verankerung und der heilsamen Distanzierung.
Gegen den Stress
Viel zu leicht passiert es, dass unsere Aufmerksamkeit sich einengt und wir sprichwörtlich „gefangen“ sind von schlechten Nachrichten und gedanklichen Katastrophenszenarien. Methoden der Achtsamkeitspraxis sind hier besonders hilfreich, uns zu fokussieren – erwiesenermaßen mit positiven Effekten auf unsere körperlich-geistige Gesundheit und unser Wohlbefinden: Das Stresserleben wird reduziert, die Gelassenheit nimmt zu und wir sind empfänglicher für positive Erlebnisse jenseits der Krise.
Autorin: Nelly Orlandini-Hagenhoff
Nelly Orlandini-Hagenhoff ist Chefärztin der Fachklinik Heiligenfeld.