Hochbegabung und seelische Gesundheit – Fluch oder Segen?
Studien zeigen, dass hochbegabte Kinder, Jugendliche und Erwachsene einem erhöhten Risiko für verschiedene psychische Erkrankungen ausgesetzt sind. Eine groß angelegte Untersuchung von Webb et al. (2017) ergab, dass bis zu 30 % der Hochbegabten im Laufe ihres Lebens an einer psychischen Erkrankung leiden, während die Rate in der Allgemeinbevölkerung bei etwa 20 % liegt. Die Ursachen für diese erhöhte Anfälligkeit sind vielschichtig und lassen sich in drei Hauptbereiche unterteilen:
30 % der Hochbegabten leiden im Laufe ihres Lebens an einer psychischen Erkrankung, während die Rate in der Allgemeinbevölkerung bei etwa 20 % liegt. Deshalb ist es besonders wichtig, dass wir die Besonderheiten der Hochbegabung in die Therapie von psychosomatischen Erkrankungen einbeziehen.
Sven Steffes-Holländer
Ärztlicher Direktor
Warum sind hochbegabte Menschen anfällig für psychische Erkrankungen?
1. Kognitive und emotionale Besonderheiten
Hochbegabte verarbeiten Informationen schneller und differenzierter, was zu kognitiver Übererregbarkeit (Overexcitability) führt. Dies kann dazu führen, dass sie eher Probleme überanalysieren und sich in Gedankenschleifen verfangen (Grübeln, Overthinking), höhere Erwartungen an sich selbst und andere stellen (Perfektionismus), stärker auf Ungerechtigkeiten und existenzielle Fragen reagieren (Sinnsuche, Weltschmerz). Diese kognitive Intensität erhöht die Wahrscheinlichkeit für Angststörungen, Depressionen und Burnout.
2. Soziale Herausforderungen
Viele Hochbegabte berichten, dass sie sich sozial isoliert fühlen, da sie sich von Gleichaltrigen unterscheiden. Schon in der Kindheit fallen sie oft durch einen ungewöhnlichen Wortschatz, einen anderen Humor oder tiefgründige Gedanken auf, was zu Ablehnung oder Mobbing führen kann. Soziale Isolation oder das Gefühl des „Nicht-Dazugehörens“ kann die Entwicklung von sozialen Ängsten, Depressionen und Selbstwertproblemen fördern.
3. Erhöhte Sensibilität und emotionale Intensität
Hochbegabte Menschen sind oft auch hochsensibel. Sie nehmen Reize intensiver wahr, reagieren stärker auf Kritik und empfinden Emotionen tiefer. Diese emotionale Intensität erhöht die Anfälligkeit für emotionale Dysregulation, bipolare Störungen oder psychosomatische Beschwerden (z. B. Reizdarmsyndrom, chronische Schmerzen).
Psychische Erkrankungen bei Hochbegabung
Depressionen
Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei Hochbegabten. Viele Betroffene leiden unter hohen Selbstansprüchen und perfektionistischen Tendenzen, die zu chronischer Unzufriedenheit und Selbstzweifeln führen können. Sie setzen sich oft unter enormen Leistungsdruck und erleben ein Gefühl der Sinnlosigkeit, wenn sie ihre eigenen hohen Erwartungen nicht erfüllen. Gleichzeitig kann soziale Isolation ein verstärkender Faktor sein, da sich Hochbegabte häufig unverstanden fühlen oder Schwierigkeiten haben, tiefgehende zwischenmenschliche Verbindungen aufzubauen. Besonders häufig tritt auch eine sogenannte Dysthymie auf – eine chronische, leichte Form der Depression, die sich durch anhaltende Niedergeschlagenheit und Energiemangel äußert.
Angsterkrankungen
Angsterkrankungen sind ebenfalls weit verbreitet, insbesondere in Form sozialer Ängste oder generalisierter Angststörungen. Hochbegabte neigen dazu, soziale Interaktionen intensiv zu analysieren und sich übermäßig mit der Bewertung durch andere auseinanderzusetzen. Dies kann dazu führen, dass sie sich in sozialen Situationen gehemmt fühlen oder Angst haben, nicht verstanden zu werden. Die Kombination aus einem ausgeprägten Bedürfnis nach Anerkennung und der Angst vor Fehlern oder Zurückweisung verstärkt diese Problematik. Eine generalisierte Angststörung äußert sich oft in einem ständigen Gedankenkreisen um mögliche Risiken und negative Szenarien, was durch die hohe kognitive Aktivität von Hochbegabten zusätzlich verstärkt wird.
ADHS
Ein weiteres häufiges Problem ist die Fehldiagnose von ADHS. Hochbegabte Kinder und Erwachsene wirken oft unruhig, haben Schwierigkeiten, sich in monotonen oder wenig herausfordernden Umgebungen zu konzentrieren, und zeigen eine hohe Impulsivität. Diese Merkmale können leicht mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung verwechselt werden. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, dass sich die Konzentrationsprobleme bei Hochbegabten meist auf spezifische Kontexte beschränken, während Menschen mit ADHS in vielen Lebensbereichen mit Aufmerksamkeitsdefiziten kämpfen.
Burnout-Syndrom
Burnout ist eine weitere häufige Folge der hohen Leistungsorientierung und der intensiven kognitiven Aktivität von Hochbegabten. Viele von ihnen setzen sich extrem hohe Ziele, arbeiten überdurchschnittlich viel und haben Schwierigkeiten, Pausen einzulegen. Da sie oft in anspruchsvollen Berufen tätig sind und ein starkes Verantwortungsgefühl haben, geraten sie schnell in eine Spirale aus Überforderung und emotionaler Erschöpfung. Die ständige geistige Aktivität und das Bedürfnis, immer neue Herausforderungen zu meistern, können zu chronischem Stress führen, der langfristig zu völliger Erschöpfung und einem Verlust an Lebensfreude führt.
Psychosomatische Beschwerden
Neben den klassischen psychischen Erkrankungen zeigen sich bei Hochbegabten häufig psychosomatische Beschwerden. Durch ihre ausgeprägte Sensibilität nehmen sie körperliche Signale intensiver wahr, was dazu führen kann, dass Stress sich in Form von körperlichen Symptomen wie Kopfschmerzen, Magen-Darm-Problemen oder chronischen Schmerzen manifestiert. Besonders häufig tritt das Reizdarmsyndrom auf, das durch eine starke Wechselwirkung zwischen Psyche und Darmfunktion geprägt ist. Hochbegabte reagieren empfindlicher auf Stress, und wenn dieser nicht ausreichend verarbeitet wird, kann sich die Anspannung im Körper niederschlagen.
Diese spezifischen psychischen Erkrankungen zeigen, dass Hochbegabte einer besonderen therapeutischen Begleitung bedürfen, die sowohl ihre kognitiven als auch ihre emotionalen Besonderheiten berücksichtigt. Ein gezieltes Behandlungsangebot kann helfen, die individuellen Herausforderungen besser zu bewältigen und die eigenen Stärken in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen.
Behandlungsmöglichkeiten
In den Heiligenfeld Kliniken finden Menschen mit Hochbegabung oder Hochsensibilität ein Therapiekonzept, das sowohl tiefenpsychologische als auch körper- und kreativtherapeutische Ansätze integriert. Ein zentraler Bestandteil der Behandlung ist die Psychotherapie. Hierbei geht es darum, die individuelle Identität zu stärken, den eigenen Selbstwert unabhängig von Leistungserwartungen zu entwickeln und bestehende soziale Ängste oder Isolationserfahrungen zu reflektieren. Besonders wichtig ist dabei der Umgang mit Perfektionismus und der inneren kritischen Stimme, die bei Hochbegabten oft stark ausgeprägt ist.
Ein weiterer wesentlicher Baustein ist die Gruppentherapie, die speziell auf die Bedürfnisse hochbegabter Menschen zugeschnitten ist. In diesen Gruppen können sich Betroffene mit anderen Hochbegabten austauschen, wodurch das Gefühl des „Andersseins“ relativiert wird. Gleichzeitig werden soziale Kompetenzen gestärkt und Strategien zur Stressbewältigung entwickelt. Die Gruppentherapie fördert zudem die emotionale Resilienz, indem sie neue Perspektiven eröffnet und den konstruktiven Umgang mit zwischenmenschlichen Herausforderungen unterstützt.
Neben der klassischen Psychotherapie spielen in den Heiligenfeld Kliniken körpertherapeutische Verfahren eine zentrale Rolle. Hochbegabte und hochsensible Menschen sind oft von einer starken geistigen Aktivität geprägt, weshalb es wichtig ist, den Körper als Ressource in die Therapie einzubeziehen. Achtsamkeitsübungen, Meditation und Yoga helfen dabei, die eigene Wahrnehmung zu regulieren und eine bessere Balance zwischen Denken und Fühlen zu finden.
Ergänzend dazu bieten die Heiligenfeld Kliniken verschiedene kreativtherapeutische Verfahren an, so ermöglicht Kunsttherapie einen nonverbalen Zugang zu inneren Themen und kann helfen, Emotionen auszudrücken, die sich schwer in Worte fassen lassen. Die ganzheitliche Therapie in den Heiligenfeld Kliniken hilft hochbegabten Menschen, ihre besonderen Eigenschaften als Stärke zu begreifen, ohne sich durch Perfektionismus und Überforderung selbst zu schaden. Sie lernen, sich selbst besser zu verstehen, ihre Sensibilität als Ressource zu nutzen und einen gesunden Umgang mit Stress und zwischenmenschlichen Herausforderungen zu finden.
Quellen
Quelle: Ruth I. Karpinski, Audrey M. Kinase Kolb, Nicole A. Tetreault, Thomas B. Borowski: High intelligence: A risk factor for psychological and physiological overexcitabilities, Intelligence, Volume 66, 2018.
Webb, J. T., Meckstroth, E. A., & Tolan, S. S. (2007). Guiding the Gifted Child: A Practical Source for Parents and Teachers. Great Potential Press.
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