„Ich traue niemandem – nicht mal mir selbst.“
Solche Sätze hören wir in der Psychotherapie nicht selten. Dahinter steckt oft eine tiefe Lebenserfahrung: dass man sich nicht sicher fühlen kann. Nicht in Beziehungen, nicht im eigenen Körper, manchmal nicht einmal im Leben selbst.
Aber ist das Schicksal, oder kann man das ändern?
Kann man Urvertrauen lernen, auch wenn es in der Kindheit gefehlt hat?
Was ist Urvertrauen?
Der Begriff „Urvertrauen“ wurde maßgeblich durch den Psychoanalytiker Erik H. Erikson geprägt. Er bezeichnet damit das grundlegende Gefühl, dass die Welt ein sicherer Ort ist – dass man angenommen wird, dass jemand da ist, wenn man weint, dass man getröstet wird. Dieses Gefühl entsteht in den ersten Lebensmonaten, vor allem durch körperliche Nähe, verlässliche Zuwendung und emotionale Resonanz.
Wenn ein Kind erlebt: „Ich bin gemeint. Ich darf sein. Ich werde gehalten.“ – dann entwickelt sich Urvertrauen. Es ist kein Wissen, sondern ein Körpergefühl. Ein inneres Ja zum Leben.
Wenn das Fundament fehlt
Nicht alle Menschen machen diese frühen Erfahrungen. Wenn Bezugspersonen überfordert, selbst traumatisiert oder emotional nicht verfügbar sind, kann sich kein stabiles Urvertrauen entwickeln.
Die Folgen spüren Betroffene oft ihr Leben lang:
– Eine chronische innere Unruhe oder Anspannung
– Schwierigkeiten, sich in Beziehungen einzulassen
– Ein ständiger Zweifel, ob man „genug“ ist
– Tiefe Angst, verletzt oder verlassen zu werden
Auch körperlich zeigen sich solche frühen Verletzungen: etwa in Form von psychosomatischen Beschwerden, Schlafstörungen oder chronischen Schmerzen. Nicht selten führen sie in depressive Episoden, Angsterkrankungen oder Abhängigkeitsdynamiken.
Kann man Urvertrauen nachnähren?
Die gute Nachricht: Ja. Es ist möglich. Aber nicht auf dieselbe Weise wie in der Kindheit.
Was damals gefehlt hat, kann nicht „nachgeholt“ werden. Doch unser Gehirn – und vor allem unser emotionales Erleben – bleibt ein Leben lang formbar.
Die Neurowissenschaft nennt das Plastizität: Die Fähigkeit des Nervensystems, auf neue Erfahrungen zu reagieren und sich neu zu organisieren.
Entscheidend sind dabei korrigierende emotionale Erfahrungen: Erlebnisse, in denen wir erfahren dürfen, dass Nähe nicht gefährlich ist. Dass jemand bleibt, auch wenn wir wütend oder traurig sind. Dass wir uns zeigen dürfen und gehalten werden.
Die Rolle der Psychotherapie
Psychotherapie bietet einen Raum, in dem solche Erfahrungen möglich werden.
Nicht, weil dort „alles gut“ ist. Sondern, weil hier ein Mensch ist – die Therapeutin, der Therapeut – der sich einlässt. Der zuhört. Der nicht zurückweicht, wenn es wehtut. Der Grenzen setzt, wo sie nötig sind und zugleich Nähe ermöglicht, wo sie heilend wirkt.
In der therapeutischen Beziehung können alte Muster sichtbar werden – und langsam verwandelt. Dabei helfen verschiedene therapeutische Zugänge, etwa:
– Psychodynamische Verfahren, die innere Anteile sichtbar machen
– Körperorientierte Therapien, in denen Sicherheit spürbar wird
– Bonding-Erfahrungen, in denen Halt nicht nur gedacht, sondern gefühlt wird
– Achtsamkeitsbasierte Methoden, die den Zugang zum inneren Selbst stärken
In den Heiligenfeld Kliniken verbinden wir diese Zugänge zu einem ganzheitlichen Ansatz, der nicht nur Symptome lindert, sondern Entwicklung ermöglicht, auf allen Ebenen des Menschseins.
Bindungstypen und wie sie unsere Beziehung prägen
Was früh erlebt wurde, lebt weiter, vor allem in unseren Beziehungsmustern. Die Bindungstheorie nach John Bowlby und Mary Ainsworth unterscheidet vier grundlegende Bindungstypen: sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent und desorganisiert.
Wer als Kind verlässliche, feinfühlige Zuwendung erfahren hat, entwickelt meist eine sichere Bindung und kann auch als Erwachsener Nähe und Distanz gut regulieren. Menschen mit unsicheren oder desorganisierten Bindungsmustern hingegen erleben Beziehungen oft als herausfordernd: Sie misstrauen Nähe, klammern, ziehen sich zurück oder schwanken zwischen beidem.
Diese Muster sind nicht bewusst gewählt, sie sind eher Strategien, um mit Unsicherheit umzugehen. In der Psychotherapie dürfen sie erkannt, verstanden und im besten Fall neu erlebt werden. Die therapeutische Beziehung dient dabei als sicherer „Bindungskorridor“, in dem Entwicklung möglich wird.
Urvertrauen heißt auch: Gefühle halten können
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Fähigkeit zur Affektregulation, also zum inneren Umgang mit starken Gefühlen. Menschen mit stabilem Urvertrauen können Schmerz, Wut oder Angst meist gut verarbeiten. Wer aber nie gelernt hat, sich zu beruhigen, weil es früher niemanden gab, der dabei half, bleibt mit intensiven Gefühlen oft allein.
In der Therapie geht es deshalb nicht nur um Gespräche, sondern auch um das Erlernen neuer emotionaler Kompetenzen. Wie erkenne ich, wann ich innerlich überflutet bin? Wie kann ich mich selbst beruhigen, mich innerlich „halten“? Körperwahrnehmung, Atemübungen, imaginative Techniken oder Selbstmitgefühl spielen hier eine wichtige Rolle.
Das Ziel ist nicht emotionale Kontrolle, sondern emotionale Integration. Erst wenn ich meine Gefühle wirklich fühlen darf – ohne von ihnen überschwemmt zu werden – entsteht innere Sicherheit.
Was kann ich selbst tun - auch ohne Therapie?
Nicht alle Menschen haben sofort Zugang zu einem Therapieplatz. Und doch kann auch außerhalb der Therapie ein Prozess beginnen. Hier einige Impulse:
- Tägliche Selbstanbindung: Ein kurzes Innehalten am Morgen – Hand aufs Herz, ein tiefer Atemzug, die Frage: „Was brauche ich heute?“
- Verlässliche Routinen: Struktur gibt Halt. Feste Rituale – wie ein Spaziergang, das Schreiben eines Tagebuchs oder das bewusste Kochen – helfen, inneren Boden zu finden.
- Beziehungsinseln schaffen: Auch kleine, verlässliche Kontakte können Nähe erlebbar machen – ein offenes Gespräch, ein Blick, ein echtes Zuhören.
- Achtsamkeit üben: Apps, Podcasts oder kurze Meditationsanleitungen können helfen, den Kontakt zum eigenen Erleben zu stärken.
- Grenzen wahren: Wer kein Urvertrauen hat, sagt oft zu allem Ja – aus Angst, sonst verlassen zu werden. Ein „Nein“ zu lernen, ist ein wichtiger Schritt zum „Ja“ zu sich selbst.
Auch wenn das Urvertrauen früh erschüttert wurde:
Es ist nie zu spät, Sicherheit zu erleben.
Nie zu spät, Beziehung als Halt zu erfahren.
Und nie zu spät, das Leben mit einem inneren „Ja“ zu begrüßen.
Psychotherapie kann diesen Weg begleiten, aber auch kleine Schritte im Alltag führen zu einer neuen Erfahrung: Dass ich heute für mich sorgen darf. Und dass es möglich ist, das Vertrauen ins Leben wiederzufinden oder neu zu finden – Schritt für Schritt.
„Was früh gefehlt hat, kann nicht nachgeholt werden. Aber es kann neu entstehen – im Hier und Jetzt.“
Sven Steffes-Holländer
Ärztlicher Direktor der Heiligenfeld Kliniken
Quellen
- Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Wall, S. (1978). Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Lawrence Erlbaum.
- Bowlby, J. (1989). Eine sichere Basis: Klinische Anwendungen der Bindungstheorie (R. Walter, Übers.). Klett-Cotta. (Original erschienen 1988)
- Erikson, E. H. (1966). Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp.
- Hüther, G. (2016). Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher. Fischer Taschenbuch.
- Schore, A. N. (2003). Affect regulation and the repair of the self. W. W. Norton & Company.
- Siegel, D. J. (2020). Mindsight: Die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation (U. Junker, Übers.). Kösel. (Original erschienen 2010)
- Strauß, B., Altmann, U., & Tritt, K. (Hrsg.). (2022). Psychotherapie: Ein Lehrbuch für Ärzte und Psychologen (5. Aufl.). Springer.
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