In Deutschland sind rund 6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen von der Persönlichkeitsstörung Borderline betroffen. In der Familienklinik Bad Wörishofen erhalten Kinder und Jugendliche therapeutische Hilfe, um mit Borderline leben zu können. Viele Betroffene leiden sehr unter der Erkrankung und wünschen sich ein „normales” Leben. Im Gespräch erklärt Dr. Hans-Peter Selmaier, Stellv. Ärztlicher Direktor der Heiligenfeld Kliniken, was Borderline ist und warum eine Diagnose bei Jugendlichen nicht ganz einfach zu stellen ist.
Herr Dr. Selmaier, kann man bei Jugendlichen überhaupt von Borderline reden?
Ja und nein. Nach der medizinischen Lehre gilt, dass bei jungen Menschen erste Anzeichen vorliegen können, die Störung sich aber erst im Erwachsenenalter ausgeprägt zeigt und auch erst dann diagnostiziert werden sollte. Ich halte es abgesehen davon nicht für hilfreich, davon zu sprechen, dass jemand eine psychische Erkrankung „hat“. Wir haben ein Fahrrad oder ein neues Paar Schuhe. Es macht vielleicht auch noch Sinn, davon zu sprechen, dass wir Hunger oder Angst „haben“.
Welche Merkmale hat die Borderline-Störung?
Als Symptom einer Borderline-Störung gilt vor allem eine ausgeprägte Impulsivität. Das heißt, anhaltend starke Gefühlsschwankungen zu haben – zum Beispiel verliebt, aber auch sehr gekränkt sein zu können. Sorge zu haben, ob man gemocht und angenommen wird. Anderen Menschen unbedingt nahe sein zu wollen, die Nähe aber nicht lang aushalten zu können aus quälender Angst, verlassen zu werden, und sich gleichzeitig aus schädigenden Beziehungen nicht lösen zu können. Betroffene finden keine Beständigkeit und Sicherheit, keine überdauernde Identität in ihrem Inneren und in ihrem Verhalten. Es gelingen ihnen keine Beziehungen, in denen sie Halt finden. Es fällt auf, dass Ähnlichkeiten zu Verhaltens- und Erlebensweisen bestehen, die für das Jugendalter durchaus typisch sein können. Jugendliche, die möglicherweise von einer Borderline–Störung betroffen sind, zeigen aber ein in dieser Hinsicht noch deutlich stärker verhärtetes Verhalten, das sie immer wieder in Konflikte mit ihrer Umwelt bringt und sie selbst in zunehmende Verzweiflung stürzen kann.
Im Wesentlichen geht es um ein tiefgreifendes Muster von Instabilität, gerade in nahen zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in der Gefühlswelt sowie von deutlicher Impulsivität. Eigene Ziele sind unklar, die Empathie ist vermindert mit eingeschränkter Fähigkeit, die Gefühle anderer zu erkennen bei gleichzeitiger Überempfindlichkeit in der Beziehungsgestaltung. Die Störung der Persönlichkeit zeichnet sich aus durch folgende Merkmale:
- Emotionale Labilität mit häufigen Stimmungsschwankungen
- Trennungsunsicherheit mit Angst vor Zurückweisung und Trennung
- Depressivität mit Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit
- Impulsivität mit der Neigung, planlos zu handeln.
- Gefährdung durch selbstgefährdendes und schädigendes Verhalten
- Feindseligkeit mit häufigen Ärgerlichkeit
Warum kann die Borderline– Störung gerade im Jugendalter beginnen?
Jugendliche durchleben einen Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, zwischen dem von den Eltern bestimmten Leben eines Kindes und der bald geforderten eigenständigen Verantwortung als Erwachsener. Dazu kommen die körperlichen und hormonellen Veränderungen des Körpers, mit den neuen sexuellen Bedürfnissen und der Aufgabe, sich mit alldem in der Gruppe der Gleichaltrigen behaupten zu können. Als werdende Frau oder als werdender Mann braucht man die Eltern dabei ebenso, wie man sich von ihnen lösen muss. Und dann müssen auch noch Schule und Ausbildung erledigt werden. In diesem Zustand sind so viel Ungewissheit, innere Konflikte und Turbulenzen auszuhalten, so viel Lernfähigkeit und Durchhaltevermögen aufzubringen, wie wohl in keinem anderen Stadium der menschlichen Entwicklung. Daher verwundert es nicht, wenn gerade in diesem Lebensalter bis dahin noch verborgene seelische Wunden aus der früheren Lebensgeschichte aufbrechen und sich in verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten zeigen.
Jugendliche befinden sich in einer instabilen Lebenssituation des Übergangs, einer Risikoperiode. Es können sogenannte Adoleszenzkrisen entstehen. Der Druck eigener Triebe nimmt zu, während das Ich und das Gewissen eher geschwächt sind. Es besteht eine herabgesetzte Toleranz für Gefühle und Spannungszustände. Das Ausmaß der Schwierigkeiten nimmt zu, wenn man sich abzulösen beginnt. Oft kann man schlecht unterscheiden, ob instabile Beziehungen, mangelnde Eigenreflexion oder -regulation noch als Ausdruck einer Adoleszentenkrise sind oder schon als Borderline-Persönlichkeitsstörung einzustufen sind. Phänomene wie Angst, Depression oder Identitätskrisen sind bei Borderline anhaltender und schwerer.
Was löst eine Borderline Störung aus?
Bei praktisch allen jugendlichen Patientinnen und Patienten in unserer Familienklinik erleben wir, dass sie in ihrer Familie keine ausreichend sicheren und halbwegs wertschätzenden Beziehungen erlebt haben. Es gibt eben Eltern, die ihrem Kind wegen ihrer eigenen psychischen Belastung nur begrenzt eine Bestätigung und angemessen liebevoll Elternperson sein können. Das kann davon kommen, dass sie vielleicht selbst die Liebe nicht bekommen haben, die wir alle brauchen, um seelisch gesund zu sein.
Bei vielen Jugendlichen erfahren wir, dass sie außerdem Gewalt und sexuellen Missbrauch erlebt haben. Wiederum andere leben in vordergründig heilen Familien, in denen übermäßig bindende loyale Beziehungen herrschen. Das alles sind aber nicht die Ursachen, sondern die größeren Zusammenhänge, in denen das Verhalten des Jugendlichen gesehen werden muss, um ihm gerecht zu werden. Die Diagnose Borderline-Störung bezeichnet so gesehen die seelischen Wunden, die ein Jugendlicher in seinem Leben erlitten hat.
Wie geht man mit Betroffenen am besten um?
Es macht Sinn, das auffällige Verhalten von Jugendlichen als ihren Versuch zu sehen, sich vor weiteren seelischen Verletzungen zu schützen und doch noch zu bekommen, was sie brauchen. Weil sie nicht ausreichend Liebe und Zuneigung erfahren haben, um sich selbst zu lieben und zu achten, laufen sie Gefahr, oberflächliche Beziehungen einzugehen und sich für Zuwendung anzubieten. Andere Jugendliche suchen die lang vermisste soziale Einbindung und Anerkennung in Jugendgruppen, wo sie andere Betroffene finden und sich endlich verstanden fühlen. Sie können ihre Gefühle von Leere, Langweile und Selbstzweifel, hinter denen sich immer große Wut verbirgt, aber dort nicht angemessen überdenken und benennen, sondern handeln gemeinsam protestierend und orientierungslos – oft in selbstzerstörerischen Verhaltensmustern. Andere Jugendliche zeigen Symptome wie zum Beispiel Essstörungen oder sind suizidgefährdet. Sie alle wollen auf diese Weise etwas zum Ausdruck bringen, was sie mit Worten nicht sagen können.
In der Therapie einer Borderline-Störung sollten folgende Punkte immer wieder angesprochen und auch mit den Eltern reflektiert werden:
- Suizidale, selbstschädigende Verhaltensweisen
- Gewalt gegen Personen oder Sachen
- Lügen, Zurückhalten wichtiger Informationen
- Passivität
- Alkohol- oder Drogenmissbrauch
- Hohe Verschuldung (Telefonate, Handyrechnungen)
- Stalking, Versuche, beim Therapeuten ein reales Zuhause zu finden
Ist Borderline behandelbar?
Die Aussagekraft bisheriger Untersuchungen dazu ist eingeschränkt. Aufgrund der Freiburger Studie lässt sich vermuten, dass sich die Borderline-Persönlichkeitsstörung im Kindes- und Jugendalter in 75% der Fälle sehr gut behandeln lässt. Schwierig ist die Prognose, wenn die Therapie abgebrochen wird, weil dann Stagnation eintritt. Eine weitere Studie besagt, dass drei Viertel der Patienten nach sechs Jahren deutliche Symptombesserungen aufweisen. Beeinträchtigungen in der psychosozialen Funktionsfähigkeit scheinen aber weiter zu bestehen.
Gerade für Menschen mit Borderline-Persönlichkeitszügen sind klare, verlässliche und nachvollziehbare Beziehungen besonders wichtig. Nur hierdurch gelingt es betroffenen, wieder Vertrauen in andere Menschen und letztlich in das Leben selbst zurückzugewinnen. Ein Schwerpunkt der Behandlung in den Heiligenfeld Kliniken liegt daher auf der Unterstützung heilsamer Beziehungen, zwischen Patient*in und Therapeut*innen sowie in der Patientengemeinschaft.
Was lernen die Jugendlichen in der Therapie in der Familienklinik Bad Wörishofen
Die Behandlungsziele werden zusammen mit dem*der Bezugstherapeut*in festgelegt. Hierzu können zählen:
- Einsicht in die Erkrankung und ihrer Schwere; Einsicht in biographische Zusammenhänge
- Entwicklung von Kontakt-/Beziehungsfähigkeit sowie Verarbeitung traumatischer Erlebnisse
- Kontrolle und Begrenzung von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Impulsen, Verhaltensweisen und Suchtverhalten
- Entwicklung des Kontakts zum inneren Selbst bzw. innerem Kind
- Bessere Selbststeuerung unterschiedlicher innerer Zustände; Entwicklung eines angemessenen Körperbildes, eines positiven Selbstgefühls, der Selbstannahme, der Selbstverantwortung.
- Akzeptanz eigener Schwächen und Stärken; Entwicklung von Alltagsfertigkeiten, sowie einer beruflichen Zukunftsperspektive nach besserer Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit
Es gibt eine klare Hierarchie der Therapieziele:
- Verhindern bzw. Verringern suizidaler und parasuizidaler Verhaltensmuster. Primäres Ziel der Therapie ist, dass der betroffene am Leben bleibt und die Therapie fortsetzt.
- Verminderung von Verhalten, das die Teilnahme an einer Therapie verhindert oder zum Abbruch führt.
- Verringern von Verhalten, das die Lebensqualität beeinträchtigt; z. B. Substanzmissbrauch, Schule schwänzen, ungeschützter Geschlechtsverkehr oder sonstiges.
- Bessere Verhaltensfähigkeiten.
Dr. med. Hans-Peter Selmaier
Dr. med. Hans-Peter Selmaier ist Arzt für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse sowie für Innere Medizin. Als Chefarzt leitet er die Parkklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen und als stellv. Ärztlicher Direktor ist er mitverantwortlich für den gesamten Medizinischen Bereich der Heiligenfeld Kliniken.
Dr. med. Hans-Peter Selmaier
Dr. med. Hans-Peter Selmaier ist Arzt für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse sowie für Innere Medizin. Als Chefarzt leitet er die Parkklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen und als stellv. Ärztlicher Direktor ist er mitverantwortlich für den gesamten Medizinischen Bereich der Heiligenfeld Kliniken.
Heiligenfeld Familienklinik Bad Wörishofen
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3 Antworten
Gut erklärt und im Moment hilfreich. Es ist manchmal schwer zu ertragen, dass es keine ,Heilung, gibt. Eva Maria.
Ich bin seit mindestens 30 Jahren in Behandlung, wegen immer wieder schwerer Depressionen!Ich hatte 18 EKTS und habe mich ins Leben zurück gekämpft! Es hört aber nicht auf. Ich will nur geliebt werden, dafür tue ich fast alles!Bin ich Borderline?!
Was ich gelesen habe trifft größtenteils zu,aber halt nicht alles!!!
Liebes Schneewittchen,
vielen Dank für Ihren Kommentar und dass Sie sich hier öffnen. Bei medizinischen Diagnosen ist es ja meistens so, dass nicht immer alle Kriterien zutreffend sein müssen. Eine genaue Diagnose können Ihnen allerdings nur Ihre behandelnden Ärzt*innen und Therapeut*innen geben. Sie können das Thema bei einem Termin dort ja einmal ansprechen? Vielleicht ergeben sich für Sie daraus Antworten auf Ihre Fragen.
Herzliche Grüße
Kathrin Schmitt