Weniger Antrieb bei monotonen Beschäftigungen
Wer mit ADHS lebt, lebt mit einem anders funktionierenden Belohnungssystem. Genauer gesagt: Die Regulation des Botenstoffs Dopamin – entscheidend für Motivation, Aufmerksamkeit und Impulskontrolle – verläuft bei Betroffenen anders als bei neurotypischen Menschen. Was bedeutet das? Tätigkeiten, die längerfristige Konzentration erfordern und keinen unmittelbaren Reiz bieten, lösen weniger innere Antriebskraft aus. Gleichzeitig steigt die Suche nach Neuem, nach Stimulation, nach Belohnung – sei es durch einen interessanten Gedanken, ein neues Projekt oder eben einen schnellen digitalen Impuls.
Emotionsregulation bedeutet, mit den eigenen Gefühlen achtsam umzugehen, ohne sich von ihnen überwältigen zu lassen. In diesem Beitrag zeigen wir, wie das mit einfachen Übungen im Alltag gelingen kann.
Digitale Reize treffen auf ein empfindliches Belohnungssystem
Der entscheidende neurobiologische Hintergrund:
Menschen mit ADHS zeigen im fronto-striatalen Netzwerk – einem zentralen Bereich für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Belohnungsverarbeitung – eine veränderte Dopaminregulation.
Konkret heißt das:
- Reize werden weniger effizient gefiltert.
- Die „Belohnungskurve“ ist flacher – Routineaufgaben lösen weniger innere Motivation aus.
- Das Bedürfnis nach starker Stimulation ist erhöht – nicht aus Langeweile, sondern aus neurobiologischer Notwendigkeit.
Die digitale Welt ist mit ihren Reizen im Sekundentakt regelrecht zugeschnitten auf diese neurologische Disposition: Social Media, Benachrichtigungen, algorithmisch perfekt abgestimmte Inhalte – all das wirkt wie ein permanenter Mini-Dopaminkick. Für Menschen mit ADHS ist das keine oberflächliche Versuchung, sondern oft eine Form der Selbstregulation.
Das Problem: Die ständige Reizüberflutung erschwert langfristig die Fähigkeit, tief bei einer Sache zu bleiben. Die Aufmerksamkeit zersplittert, das Gehirn gewöhnt sich an ständige Belohnung – und einfache, aber notwendige Aufgaben wie Steuer, Mailverkehr oder Haushalt fühlen sich zunehmend unerreichbar an.
Reflexionsfrage:
Welche digitalen Reize bringen mich aus dem Takt – und welche nähren mich wirklich?
Vom Hyperfokus zum Chaos – typische ADHS-Dynamiken im Alltag
Diese neurobiologische Basis führt im Alltag zu paradoxen Mustern. Viele Betroffene erleben sich zwischen zwei Extremen: Entweder geraten sie in einen Zustand des Hyperfokus – arbeiten stundenlang ohne Pause an einer Sache, oft unter Vernachlässigung von Bedürfnissen wie Hunger oder Schlaf – oder sie schaffen es nicht, überhaupt anzufangen.
Ein kurzer Blick aufs Handy, eine neue Idee, eine andere Reizquelle – und schon springt die Aufmerksamkeit weiter. Es entsteht ein inneres Wechselspiel von Überfokus und Vermeidung, von Überforderung und Selbstvorwurf. Das digitale Umfeld verstärkt diesen Kreislauf: Die permanente Verfügbarkeit von Reizen – vom Newsfeed bis zur Streamingplattform – macht es schwer, beim Wesentlichen zu bleiben. Hinzu kommt: Die Nutzung digitaler Medien wird oft nicht bewusst gewählt, sondern impulsiv. Was als kurze Pause gedacht war, endet in einer Stunde Scrollen.
Viele beschreiben das Gefühl, vom eigenen Verhalten „verschluckt“ zu werden – und am Ende bleibt Frustration, das Gefühl von Kontrollverlust, manchmal sogar Selbstverachtung.
Reflexionsfrage:
Wie oft verliere ich mich im Tun – und wie oft verliere ich mich im Vermeiden?
Emotionale Folgen: Erschöpfung, Scham, Rückzug
Die emotionale Belastung, die daraus resultiert, ist enorm – gerade im Erwachsenenalter, wenn die Anforderungen im Beruf, in Beziehungen oder im Elternsein hoch sind. Wer es nicht schafft, konzentriert zu arbeiten, Termine zu halten oder Prioritäten zu setzen, empfindet Scham. Diese Scham wird selten sichtbar, aber sie frisst sich tief ins Selbstbild:
„Ich bin unzuverlässig. Ich bin nicht belastbar. Ich enttäusche andere.“
Dazu kommt die Ungewissheit: Ist das noch eine Charakterschwäche – oder eine Störung? Viele Erwachsene erhalten ihre ADHS-Diagnose erst spät, oft nach Jahren des inneren Kampfes. Die Erkenntnis bringt zunächst Erleichterung – endlich gibt es einen Namen für das Chaos im Kopf. Doch sie wirft auch Fragen auf: Was lässt sich verändern? Wie lässt sich in einer reizüberfluteten Welt Stabilität finden? Und was brauche ich, um mich selbst nicht zu verlieren?
Nicht selten treten Komorbiditäten auf – etwa Depressionen, Angsterkrankungen oder Suchtverhalten. Manchmal sind sie Folge der ständigen Überforderung, manchmal treten sie parallel zur ADHS-Symptomatik auf. Eine ganzheitliche Diagnostik ist daher essenziell.
Reflexionsfrage:
Wie spreche ich innerlich mit mir, wenn etwas nicht gelingt? Würde ich so mit einem guten Freund sprechen?
Habe ich ADHS?
„Digital Detox“ reicht oft nicht – was stattdessen helfen kann
Der radikale Verzicht funktioniert selten. Viel wirksamer ist eine bewusste Gestaltung der digitalen Umwelt – kombiniert mit Strategien zur Selbstregulation. Aus der psychosomatischen Praxis haben sich folgende Impulse bewährt:
- Reizschutz schaffen statt Reize verbannen:
Nicht das Handy ist das Problem – sondern der ständige Zugriff. Bildschirmzeit, App-Limits und strukturierte „Offline-Zeiten“ helfen, bewusst zu unterbrechen, statt sich zu entziehen. - Monotasking statt Multitasking trainieren:
Ein Timer (z. B. Pomodoro-Technik: 25 Minuten Fokus, 5 Minuten Pause) kann helfen, eine Sache nach der anderen zu tun – auch wenn der Impuls zum Wechseln groß ist. - Dopamin bewusst steuern:
Sport, Musik, Natur und erfüllende soziale Kontakte aktivieren das Belohnungssystem nachhaltiger als Social Media – und stärken emotionale Selbstregulation. - Fokusrituale etablieren:
Fester Start in den Tag ohne Handy, eine bewusste Schreibtischroutine, feste Orte für bestimmte Tätigkeiten – all das signalisiert dem Gehirn: Jetzt ist Fokuszeit. - Selbstmitgefühl statt Selbstkritik:
ADHS ist kein persönliches Versagen – sondern eine Herausforderung, die verstehbar und veränderbar ist. Achtsamkeit, Coaching oder auch Psychotherapie können helfen, den inneren Dialog zu verändern.
Reflexionsfrage:
Welche Rituale helfen mir, mich zu zentrieren – und was bringt mich regelmäßig aus dem Gleichgewicht?
Umwelt versus Gehirn
ADHS ist kein Defizit an Willenskraft, sondern Ausdruck einer neurobiologischen Besonderheit. In einer Welt, die ständig Aufmerksamkeit fordert, aber kaum echte Tiefe bietet, geraten Menschen mit ADHS besonders schnell an ihre Grenzen. Nicht, weil sie „zu wenig“ leisten – sondern weil sie oft gegen eine Umwelt ankämpfen, die auf ihr Gehirn nicht abgestimmt ist.
ADHS bei Frauen
ADHS im Erwachsenenalter
Weiterführende Inhalte
ADHS ist immer wieder Thema in der Therapie von psychosomatischen Erkrankungen. In den Heiligenfeld Kliniken integrieren wir ADHS ganzheitlich in unser therapeutisches Konzept. Informieren Sie sich gerne über unser Behandlungsangebot und über die Erkrankung an sich.
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