Kontakt

Achtsamkeit neu verstehen: Präsenz statt Perfektion

Frau sitzt meditierend vor einem Fenster und blickt voller Achtsamkeit in die Natur.

Achtsamkeit – dieser Begriff begegnet uns heute fast überall. In Magazinen, auf Social Media, in Coaching-Angeboten. Oft wird er mit Entspannung, Gelassenheit oder Stressreduktion gleichgesetzt. Doch Achtsamkeit ist viel mehr als eine Technik, die uns helfen soll, „funktionstüchtiger“ zu sein. Sie ist eine Haltung zum Leben selbst.

Das Forscherteam um Scott Bishop hat Achtsamkeit schon 2004 so beschrieben: Sie besteht zum einen aus der bewussten Steuerung unserer Aufmerksamkeit, zum anderen aus einer offenen, neugierigen und annehmenden Haltung gegenüber dem, was wir erleben. Anders gesagt: Es geht darum, wach im Moment zu sein – und das, was da ist, nicht gleich zu bewerten oder zu verändern.

Warum wir den Moment so oft verpassen

Unser Geist ist ruhelos. Ständig springen Gedanken zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wir grübeln über Vergangenes, überlegen, was wir hätten anders machen sollen. Oder wir planen, sorgen uns, rechnen, malen uns aus, was kommen könnte.

So sind wir zwar körperlich im Hier und Jetzt, innerlich aber oft weit entfernt. Wir verpassen den Moment und damit auch das Leben, das sich genau jetzt entfaltet.

Achtsamkeit ist die Einladung, immer wieder zurückzukommen: in diesen Atemzug, diesen Schritt, dieses Gespräch.

Die Kunst des Zurückkehrens

Viele glauben, Achtsamkeit bedeute, nie abzuschweifen. Doch das Gegenteil ist richtig: Abschweifen gehört dazu. Die eigentliche Übung liegt darin, die Aufmerksamkeit immer wieder freundlich zurückzubringen.

Das ist ein Schlüssel: Wir üben, nicht streng oder verurteilend mit uns zu sein. Statt uns zu sagen „Ich kann das nicht“, merken wir: Ablenkung ist menschlich. Freundlich zurückzukehren, ist der Kern der Achtsamkeit.

Eine offene Haltung: Alles darf da sein

Ein weiterer Aspekt ist die innere Haltung. Achtsamkeit heißt, dem eigenen Erleben mit Offenheit zu begegnen. Nicht nur Freude und Gelassenheit, sondern auch Ärger, Traurigkeit, Müdigkeit, Unruhe dürfen da sein.

In diesem Sinne ist Achtsamkeit kein „Wegmachen“ von Problemen, sondern ein Raumöffnen für alles, was auftaucht. Gefühle verlieren ihre bedrohliche Macht, wenn wir sie anerkennen und durchziehen lassen, statt sie zu verdrängen oder festzuhalten.

Drei Schlüssel der Achtsamkeit - ein Wegweiser durch den inneren Alltag

Bishop und Kolleginnen und Kollegen haben die Achtsamkeit in drei Unteraspekte gefasst. Diese klingen zunächst technisch: „Präsenz, Rückkehr, Loslassen“. Doch sie beschreiben sehr genau, was wir im Erleben üben können.

1. Präsenz – im Hier und Jetzt verweilen

Präsenz (Sustained Attention) bedeutet, mit der Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment zu bleiben. Das klingt einfach, ist aber herausfordernd: Kaum setzen wir uns hin, schweifen die Gedanken ab – zu Terminen, Sorgen, Erinnerungen. Präsenz heißt nicht, diese Gedanken zu verhindern, sondern immer wieder bewusst beim Jetzt zu bleiben: beim Atem, bei den Füßen auf dem Boden, beim Gespräch mit einem Menschen.

Im therapeutischen Kontext bedeutet Präsenz auch, Gefühle wirklich zuzulassen: Angst darf gespürt, Traurigkeit wahrgenommen, Freude erlebt werden. Präsenz schafft den Raum, uns selbst nicht auszuweichen.

Alltagsbild: Beim Zähneputzen nicht nebenbei E-Mails checken, stattdessen die Borsten spüren, den Geschmack wahrnehmen, den Bewegungen folgen.

2. Rückkehr - die Aufmerksamkeit sanft zurückholen

Das Abschweifen gehört zum Menschsein. Gedanken werden uns immer wieder mitreißen. Der zweite Schlüssel der Achtsamkeit ist deshalb das Zurückkehren.

Dieses Zurückkehren (Attention Switching) ist kein Scheitern, es ist die eigentliche Übung: Wir bemerken, dass wir uns verloren haben – und wir kehren zurück. Freundlich, ohne uns zu tadeln. Jede Rückkehr ist wie ein Muskeltraining für die Aufmerksamkeit.

In der Therapie erleben Patientinnen und Patienten oft, dass genau hier ein neuer Ton in den inneren Dialog kommt: weniger Selbstkritik, mehr Freundlichkeit. Rückkehr ist wie eine stille Erinnerung: Du darfst neu beginnen – in jedem Moment.

Alltagsbild: Im Gespräch bemerken, dass man innerlich schon bei der eigenen Antwort ist – und zurückkehren zum aufmerksamen Zuhören.  

3. Loslassen – Gedanken nicht endlos weiterspinnen

Der dritte Schlüssel ist vielleicht der befreiendste: Gedanken und Gefühle nicht in endlosen Geschichten verstricken – das Loslassen (Inhibition of Elaborative Processing). Wir alle kennen das. Ein Gedanke taucht auf und zieht sofort eine ganze Kette weiterer nach sich: „Warum hat sie das gesagt? Habe ich etwas falsch gemacht? Was wird passieren?“ Und schon sind wir verfangen.

Achtsamkeit übt, diesen Mechanismus zu durchschauen. Ein Gedanke ist nur ein Gedanke, ein Gefühl nur ein Gefühl. Wir nehmen ihn wahr und lassen ihn weiterziehen, ohne ihn festzuhalten.

Das heißt nicht, Probleme zu verdrängen. Im Gegenteil: Es bedeutet, Raum zu schaffen, damit wir klarer entscheiden können, wann Nachdenken hilfreich ist, und wann nicht.

Alltagsbild: Abends im Bett taucht der Gedanke auf: „Morgen wird stressig.“ Statt stundenlang Szenarien zu wälzen, wahrnehmen: „Da ist Sorge.“ Und dann zurück zum Atem finden.

„Die drei Schlüssel der Achtsamkeit – Präsenz, Rückkehr, Loslassen – sind eine Haltung, die uns mehr Freiheit im Leben schenkt.“

Chefarzt der Heiligenfeld Klinik Berlin.

Sven Steffes-Holländer Ärztlicher Direktor der Heiligenfeld Kliniken

Das Zusammenspiel

Diese drei Schlüssel – Präsenz, Rückkehr, Loslassen – wirken zusammen wie ein inneres Navigationssystem:

  • Präsenz bringt uns ins Jetzt.
  • Rückkehr holt uns sanft zurück, wenn wir uns verlieren.
  • Loslassen verhindert, dass wir uns in Gedankenschleifen verfangen.

So entsteht ein neuer Umgang mit dem eigenen Erleben: weniger automatisch, freier, lebendiger.

Achtsamkeit in der therapeutischen Praxis

In den Heiligenfeld Kliniken ist Achtsamkeit seit vielen Jahren ein fester Bestandteil der Behandlung. Sie begegnet Patientinnen und Patienten nicht nur in klassischen Meditationsübungen, sondern in vielen kleinen Momenten des Alltags:

  • In der Körpertherapie wird spürbar, wie sehr sich die Aufmerksamkeit auf den Atem, auf Bewegungen oder Körperempfindungen beruhigend und klärend auswirkt.
  • In der Kunsttherapie geht es darum, das, was im Inneren lebendig ist, auf Papier oder in eine Skulptur zu bringen – ohne Bewertung, einfach als Ausdruck des Jetzt.
  • In der Gruppentherapie erleben Patientinnen und Patienten, dass achtsames Zuhören und echtes Gegenwärtigsein Beziehungen verändern: Man fühlt sich gesehen und angenommen.
  • In der Natur – sei es beim meditativen Gehen im Park oder beim Waldbaden – entsteht eine direkte Verbindung zum Hier und Jetzt.

Viele Patientinnen und Patienten berichten, dass sie durch Achtsamkeit eine neue Art von Freiheit erleben: Sie müssen nicht mehr sofort auf Gedanken oder Gefühle reagieren. Sie können innehalten und entscheiden, wie sie handeln wollen.

Podcast: Loslassen – Wie lerne ich loszulassen?

Dieser Podcast beschäftigt sich mit dem Thema "Loslassen". Kann man Loslassen lernen und wenn ja, wie?

Eine kleine Übung für den Alltag

Probieren Sie Folgendes:

  • Setzen Sie sich für drei Minuten hin.
  • Schließen Sie die Augen und spüren Sie den Atem.
  • Wenn Gedanken kommen – nehmen Sie sie wahr, und kehren Sie sanft zum Atem zurück.
  • Versuchen Sie nicht, den Atem zu verändern. Lassen Sie ihn einfach geschehen.

Vielleicht merken Sie: Schon nach kurzer Zeit entsteht ein Gefühl von Ruhe und Klarheit – nicht, weil die Gedanken verschwunden sind, vielmehr weil Sie ihnen nicht mehr ausgeliefert sind.

Fazit: Im Leben ankommen

Achtsamkeit ist keine Methode, um immer entspannt und glücklich zu sein. Sie ist eine Haltung, die uns hilft, das Leben mit all seinen Facetten zuzulassen. Wir lernen, freundlicher mit uns selbst zu sein, Gedanken und Gefühle kommen und gehen zu lassen, und im Moment wirklich da zu sein.

Für viele Menschen bedeutet das eine tiefgreifende Veränderung: Sie erleben ihr Leben intensiver, echter und mit mehr innerer Freiheit.

Achtsamkeit heißt: präsent sein - nicht perfekt sein.

Atem-Meditation: Die Reise in dein Inneres

In dieser geführten Atem-Meditation nimmt Sie Achtsamkeitslehrerin Iris Vollert zu einer Reise in Ihr Inneres mit.

Diese Beiträge könnten Sie auch interessieren

Inhalt
Bild von Sven Steffes-Holländer
Sven Steffes-Holländer
Sven Steffes-Holländer ist Ärztlicher Direktor der Heiligenfeld Kliniken. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und zudem Chefarzt der Heiligenfeld Klinik Berlin. Als Autor, Speaker und Dozent trägt er mit seinem Fachwissen zur Aufklärung über psychische Erkrankungen bei.
Bild von Sven Steffes-Holländer
Sven Steffes-Holländer
Sven Steffes-Holländer ist Ärztlicher Direktor der Heiligenfeld Kliniken. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und zudem Chefarzt der Heiligenfeld Klinik Berlin. Als Autor, Speaker und Dozent trägt er mit seinem Fachwissen zur Aufklärung über psychische Erkrankungen bei.

Unsere Themen & Beiträge

In unserem Blog „Seelenleben“ finden Sie weitere interessante Beiträge rund um die Themen seelische, psychische und körperliche Gesundheit.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert